Schlafforschung: Die Überwachung des Schlafs

Nr. 36 –

Der Mensch soll 24 Stunden am Tag verfügbar sein. Um ihn zu optimieren, setzt die US-Armee nun auf einen schlaflosen Zugvogel.

Vor nicht allzu langer Zeit erregte eine amerikanische Spatzenart, die Dachsammer, das Interesse des Pentagons. Dieser Zugvogel kommt auf seinem saisonalen Flug von Alaska nach Nordmexiko ohne Schlaf aus, bis zu einer Woche. Diese Fähigkeit ermöglicht ihm, während der Nacht zu fliegen und bei Tag Nahrung zu suchen. Die erstaunliche schlaflose Effizienz war für das US-Militär Anlass, ornithologische Studien in Auftrag zu geben, die herausfinden sollten, wie die Gehirnaktivität der Dachsammer ihr diese langen Wachperioden erlaubt. Mit dem Ziel, die gewonnenen Erkenntnisse auf den Menschen zu übertragen.

Die Wissenschaft beschäftigt sich nun also mit Techniken der Schlaflosigkeit, basierend auf Neurochemikalien, genetischen Eingriffen oder Magnetstimulation des Gehirns. Ornithologie wird in den Dienst der nationalen Sicherheit genommen, als Teil eines Grossprojekts der Agentur DARPA (Defence Advanced Research Projects Agency), deren primäres Ziel die Entwicklung wirksamer neuer Technologien für die Kriegsführung ist. Zu den angestrebten «Produkten» gehört auch der «Dachsammer-Soldat», der seinen Auftrag von unbestimmter Zeitdauer effizient ausführt, unbeeinträchtigt durch das Bedürfnis nach Schlaf und Erholung – ein Stadium des Verhaltensdesigns, des Human Enhancement, auf dem Weg zur perfekten soldatischen Maschine.

Die 24/7-Gesellschaft

Das ist nur ein Aspekt eines anschwellenden Mainstreams. Die technisch erzeugte Schlaflosigkeit steht als Emblem für die permanente Abrufbarkeit, Dienstbarkeit, Vernetztheit des heutigen Menschen. Im Englischen gebraucht man das Kürzel «24/7» für den Zustand der Dauerbereitschaft: 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche. Der Übergriff dieser Lebensform auf den Schlaf lässt sich an der schwindenden durchschnittlichen Schlafenszeit ablesen. Der durchschnittliche erwachsene Amerikaner, schreibt der Kunsthistoriker Jonathan Crary in seinem Buch «24/7: Late Capitalism and the End of Sleep» (2013), schlafe heute etwa sechseinhalb Stunden: eine markante Reduktion gegenüber den acht Stunden vor einer Generation und eine noch markantere gegenüber den zehn Stunden zu Beginn des letzten Jahrhunderts.

Hier manifestiert sich die paradoxe Doppeldeutigkeit des Schlafs: biologisch nützlich, ökonomisch nutzlos. Eine unprofitable Auszeit, die minimiert werden muss. Zu diesem Zweck verlangt die Ökonomie seine Abkopplung von den natürlichen Zyklen. Schlaf soll zum kalkulierbaren, justierbaren Parameter einer Produktions-, Service- und Kosumptionsmaschinerie werden, wie die Stromzufuhr oder der Druckausgleich. Bekanntlich «schlafen» heute selbst die Maschinen. Wird der Drucker nicht benutzt, verabschiedet er sich in den «Sleep»-Modus. Apple führte in sein Betriebssystem den «power nap» ein, das Energienickerchen zwischendurch: Der Computer erfüllt in diesem Zustand immer noch wichtige Aufgaben, empfängt etwa E-Mails, lädt Software herunter oder erstellt Back-ups.

Auch wenn unter Biologen und Neurologinnen keine Einigkeit herrscht über die vitalen Funktionen des Schlafs, so besteht doch kein Zweifel daran, dass Schlafmangel diese Funktionen beeinträchtigt. Schlafentzug weist sozusagen in zynischer Umkehr auf die Nützlichkeit des Schlafs hin. Eine seit Jahrhunderten eingesetzte Foltermethode, bei der das elektrische Licht zum unentbehrlichen Assistenten aufgerückt ist, wird in einschlägigen Kreisen «Förderband» genannt: eine ausgeklügelte Abfolge von Gewaltakten mit dem Ziel, die Wahrheit ans Licht zu «befördern». (Die Geheimdienste sprechen vom Schlafentzug als von einer «psychologischen Überzeugungstechnik».) Man kann ein Individuum irreparabel zerbrechen, wenn man ihm den lebenswichtigen Kontakt zur Aussenwelt – sinnliche Wahrnehmung – und zur Innenwelt – Schlaf und Traum – versagt. Mit dem Schlafentzug treibt man dem Menschen sein Selbst aus.

Hypnophobe PhilosophInnen

Mit dem Schlaf korrespondiert die Nacht, die Dunkelheit, der Schatten. Jeremy Benthams «Panoptikum», das architektonische Überwachungsmodell für Gefängnisse, Fabriken, Spitäler und Schulen des 19. Jahrhunderts, funktioniert nur optimal bei permanenter Helligkeit. Der lichtdurchflutete Raum eliminiert die dunklen Schlupfwinkel. So wie die gnadenlose Datenhelligkeit des Netzes und seiner Social Media heute das Zwielicht abschafft, das Privatheit und Intimität brauchen.

Bereits vor der digitalen Durchleuchtung gab es in den späten neunziger Jahren den Plan, ein System von spiegelnden Satelliten zu errichten, die das Sonnenlicht auf die Erde reflektieren würden. Die Idee wuchs rasch zu einem Illuminationsprojekt planetarischen Ausmasses, durch das der Globus buchstäblich in immerwährende Mittagshelle getaucht worden wäre.

Es scheint, dass der Schlaf auch unter den PhilosophInnen nicht viele Freunde findet. Man könnte sogar von einer Scheu vor dem Schlaf sprechen, einer philosophischen Hypnophobie. Der Schlafende, so hören wir bereits bei Platon, sei kaum besser als der Tote; wer das Leben und die Weisheit liebe, schlafe nicht mehr als für die Gesundheit notwendig. Und besonders seit Descartes und seinen klaren und deutlichen Ideen, seit dem Siècle de lumière, dieser Schwelle zur erhellten Moderne, haftet dem Schlaf das Stigma des Passiven, Unbewussten, Irrationalen an. Schlaf ist generell die Antithese zum reflektierten Wachsein der Vernunft. Und so zieht der Triumph der Wachheit über den Schlaf seine Spur bis zu Sartre und seinem Degout vor dem schlafenden Menschen, diesem Inbild des Rückfalls in den Zustand der «blossen» Materie.

Natürlich gibt es die Neurobiologie, die uns wahrscheinlich über Bedeutung und Nützlichkeit des Schlafs noch viel zu sagen haben wird. In einem gerade erschienenen Buch – «Autopilot. The Art and Science of Doing Nothing» (2013) – berichtet Andrew Smart von neueren Forschungen, die auf erstaunliche «intrinsische» Aktivitäten unseres Gehirns im Ruhezustand hinweisen. Wir werden uns darauf gefasst machen müssen, dass die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse dazu prädisponiert sind, die verborgene Produktivität des Schlafs auszubeuten und so die letzte Bastion des inneren Rückzugs dem Eingriff von aussen zu öffnen.

Die Dissidenz des Schlafs

Vielleicht braucht es die Zeit der totalen Transparenz für eine andere Entdeckung dieses grossen dunklen Kontinents in uns. Man kann es ironischerweise der Romantik als Verdienst anrechnen, dass sie mit dem Schlaf unseren Sinn geweckt hat für die Rückseite einer rationalen Überwachtheit. Statt, wie üblich, als Gegenbewegung zur Aufklärung wäre sie viel angemessener als kritische Begleiterin zu verstehen, als Warnerin vor einem triumphierenden technischen Fortschritt, der doch, recht besehen, ein Aufrüsten unserer Mängel und Schwächen ist.

Oder anders gesagt: Der perfekte 24/7-Mensch ruft nach einem Gegentypus des Unperfekten, einem Menschen des Ausgleichs, der Schlaf nicht nur als Quelle der Regeneration versteht, sondern als Basis seiner Autonomie. Mein Schlaf gehört mir!

Wenn also der Schlaf der Vernunft Ungeheuer gebären soll, dann vermutlich viel mehr noch die weissen Nächte, die uns in einer 24/7-Gesellschaft bevorstehen. Die Dachsammer könnte in diesem Zusammenhang auch anders zum Vorbild werden. Man gibt ihren Ruf lautmalerisch so wieder: «You can’t come to catch me!» – Du wirst mich nicht fangen! Ein wunderbar passender Ausdruck für die Dissidenz des Schlafs. Für die Dissidenz des Menschen gegenüber dem Affront seiner totalen Überwachbarkeit.