Asyl: Schwedens mutiger Alleingang

Nr. 37 –

Schweden gewährt um ein Vielfaches mehr syrischen Flüchtlingen Asyl als die Schweiz – auch wenn Reibungen programmiert sind.

Mittwoch, 11. September 2013 vor dem Bundesamt für Migration in Wabern: SyrerInnen fordern einen geregelten Aufenthalt. Foto: Bleiberecht-Kollektiv Bern

Schweden wird als erstes europäisches Land allen syrischen Flüchtlingen Asyl gewähren. Der Konflikt habe sich «gelinde gesagt deutlich verschlimmert», und man gehe davon aus, dass er «in absehbarer Zeit nicht beendet sein wird», war die Begründung von Anders Danielsson, dem Generaldirektor der Migrationsbehörde. Er betonte, dass sich damit erstmals für SyrerInnen ein legaler Weg in ein EU- und Schengen-Land geöffnet habe.

Pauschales Aufenthaltsrecht

Schweden stand unter Entscheidungsdruck. Seit 2012 sind fast 15 000  Flüchtlinge aus Syrien eingereist. Knapp die Hälfte davon hat zwischenzeitlich das übliche Verfahren absolviert und politisches Asyl erhalten. Vom neuen Beschluss betroffen sind etwa 8000 syrische Flüchtlinge, deren Asylantrag noch nicht entschieden wurde und die deshalb eine zeitlich befristete Aufenthaltserlaubnis hatten. Sie werden nun pauschal ein permanentes Aufenthaltsrecht erhalten, das ihre Rechtsstellung wesentlich verbessert. Sie haben es nun selbst in der Hand, ob und wann sie nach Syrien zurückkehren wollen. Vor allem aber können sie nun versuchen, Familienangehörige auf legalem Weg nachkommen zu lassen. Zum Vergleich: In der Schweiz leben nur 980 vorläufig aufgenommene SyrerInnen (vgl. «Die Schweiz solls wie Schweden machen» im Anschluss an diesen Text).

Einer der Betroffenen, den die Stockholmer Zeitung «Aftonbladet» dieser Tage porträtierte, ist Fadi al-Hayek. Vor einem Jahr musste der Dreissigjährige seine Frau und die zweijährige Tochter in Damaskus zurücklassen und allein nach Schweden fliehen. Zwar hatte sich seine Familie zur gemeinsamen Flucht entschlossen, doch in letzter Minute hatten sich die Schmuggler geweigert, seine schwangere Frau mitzunehmen. Sie wollten mehr Geld haben, weil diese angeblich ein zu grosses Sicherheitsrisiko sei – Geld, das die Familie nicht hatte. Fadi ging allein, und seine Familie sollte dann nachkommen. Doch mit der zeitbegrenzten Aufenthaltserlaubnis, die er bekam, ging das nicht. Nun hofft er, seine Frau und den zwischenzeitlich geborenen Sohn bald sehen zu können.

Appell an andere Länder

Für Menschen, die noch in Syrien sind, gilt die neue schwedische Regelung im Prinzip auch. Aber um diese wahrnehmen zu können, müssten sie erst einmal dorthin oder jedenfalls zu einer schwedischen Botschaft in einem syrischen Nachbarland gelangen – diejenige in Damaskus ist geschlossen. «Viele werden nun alles verkaufen, um mit Schmugglerhilfe nach Schweden kommen zu können», mutmasst Malek Laesker von Schwedens Syrisch-Arabischer Kulturvereinigung. Die äusseren Grenzkontrollen der EU sind nämlich durch den isolierten Beschluss Schwedens nicht durchlässiger geworden. Weshalb sowohl der schwedische Migrationsminister Tobias Billström wie auch Cecilia Malmström, schwedische EU-Kommissarin für Innen- und Flüchtlingspolitik, an die anderen europäischen Länder appellierten, dem schwedischen Beispiel zu folgen. Doch ein positives Echo blieb aus. Der Schweizer Bundesrat etwa will lediglich ein Kontingent von 500 Flüchtlingen aus Syrien aufnehmen – und dies verteilt auf die nächsten drei Jahre.

Ist die jetzige Grosszügigkeit in Sachen Syrienflüchtlinge ein Beweis dafür, dass Schweden im europäischen Vergleich eine besonders generöse Flüchtlingspolitik pflegt? Ja und nein. Einerseits steht Schweden uneingeschränkt hinter der restriktiven EU-Politik der geschlossenen Aussengrenzen, die zur Folge hat, dass jährlich Tausende beim Versuch, sie zu überwinden, im Mittelmeer ertrinken. In enger Zusammenarbeit mit den USA hat Schweden Flüchtlinge als vermeintliche Terroristen in Foltergefängnisse schaffen lassen. Später stellte sich heraus, dass die Ausgeschafften unschuldig waren.

Andererseits öffnete Schweden nach dem Militärputsch von 1973 in Chile sofort für Flüchtlinge weit die Grenzen und in den neunziger Jahren auch für Asylsuchende aus den Balkanländern. 2012 suchten 44 000  Menschen in Schweden, dem 9-Millionen-EinwohnerInnen-Land, Asyl. 28 631 waren es im selben Jahr in der Schweiz. In diesem Jahr dürften es deutlich mehr werden.

Und bislang haben die schwedischen Parteien, anders als in Dänemark, auch der Versuchung widerstanden, sich angesichts des Einzugs einer rassistischen Partei ins Parlament in die Spirale einer ständigen Verschärfung des Ausländerrechts ziehen zu lassen. In Stockholm sind die ausländerfeindlichen «Schwedendemokraten» isoliert geblieben. Die konservativ-liberale Minderheitsregierung hat mit den oppositionellen Grünen ein Migrationsabkommen geschlossen, nach dem jegliche Änderung von Ausländerrecht und -politik gemeinsamer Zustimmung bedarf und so signalisiert, dass sie in diesem Bereich keine Stimmen bei den «Schwedendemokraten» suchen. Ob diese Linie auch vor dem Hintergrund womöglich weiter wachsender Stimmenanteile für die «Schwedendemokraten» hält, wird sich bei den im kommenden Jahr stattfindenden Parlamentswahlen weisen.

Ausländerfeindliche Agitation

In Schweden ist es weitgehend den Gemeinden überlassen, ob und in welchem Umfang sie bereit sind, Asylsuchende aufzunehmen. Aufnahmewillige Gemeinden erhalten finanzielle Beihilfen aus der Staatskasse. Doch wohlhabende Gemeinden sind weniger darauf angewiesen, mit der Folge, dass überproportional viele Flüchtlinge von Orten mit billigen Wohnungen, hoher Arbeitslosigkeit und damit sowieso schon grossen sozialen Problemen aufgenommen werden. Reibungen und Spannungen sind unter solchen Bedingungen programmiert. Die Entscheidung zum Asyl für syrische Flüchtlinge wurde von ausländerfeindlichen Kräften denn auch mit Warnungen vor einer «Araberflut» und «Muslimschwemme» begleitet.

Boel Godner, sozialdemokratische Bürgermeisterin von Södertälje, warnt ihrerseits, es dabei zu belassen, diesen Menschen nur eine Aufenthaltsgenehmigung in die Hand zu drücken. Grösserer Einsatz sei gefordert. Södertälje selbst präsentiert sich als «Schwedens internationale Hauptstadt». Über ein Drittel der EinwohnerInnen sind im Ausland geboren, und die Stadt wird vermutlich nun auch Ziel vieler syrischer Flüchtlinge sein. Einmal anerkannt, können diese ihren Wohnort frei wählen, und ein Grossteil hat bereits FreundInnen und Familienangehörige hier, so auch Fadi al-Hayek, dessen Schwägerin seit Jahren in Södertälje lebt.

«Södertälje hat in Schweden sicher am meisten Erfahrung, was die Integration von Flüchtlingen angeht», sagt Boel Godner. «Und natürlich müssen wir nun diese Menschen aufnehmen. Aber nicht allein. Nun muss ganz Schweden helfen.»

Die «Hauptstadt Assyriens»

Södertälje ist ein wichtiger Grund dafür, warum sich so viele SyrerInnen Schweden als Fluchtland ausgesucht haben. In die Stadt südlich von Stockholm mit vielen nach Arbeitskräften suchenden expandierenden Industriebetrieben kamen in den sechziger Jahren christliche Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Libanon. Es folgten christliche AssyrerInnen aus der Türkei und Syrien und Christen aus dem Irak. Rund ein Viertel der 65 000 EinwohnerInnen der Stadt stammt mittlerweile aus dieser Region. Sie haben eigene TV-Sender, Kirchen und Sportvereine. Der Fussballverein Assyriska FF, derzeit in der zweiten schwedischen Liga, gilt AssyrerInnen in aller Welt als «Nationalmannschaft» ihres Volks, das seit 2500 Jahren ohne eigenes Land ist. Und Södertälje wird oft als «Hauptstadt Assyriens» betitelt.

Flüchtlingsprotest vor dem BFM : Die Schweiz soll es wie Schweden machen

Normalerweise tummeln sich Beamte mit Aktenkoffern auf dem Platz vor dem Hauptsitz des Bundesamts für Migration (BFM) in Wabern bei Bern. Nicht so heute: Junge Männer liegen in Decken gehüllt auf dem Boden, Frauen sitzen mit Kinderwagen unter einem Veloabstellplatz, der momentan als Nachtquartier dient. Seit Montag übernachten hier gut hundert syrische Staatsangehörige. Inzwischen sind einige in den Hungerstreik getreten.

Sie fordern, dass allen syrischen Flüchtlingen – wie in Schweden – eine stabile Aufenthaltsbewilligung erteilt wird. Derzeit schafft die Schweiz syrische Flüchtlinge zwar nicht aus, ihre Asylgesuche bleiben jedoch oft jahrelang liegen oder enden mit dem Plazet einer «vorläufigen Aufnahme». Für die Betroffenen bedeutet dies ein Leben im «Schwebezustand», wie ein Protestierender es nennt. Der Familienvater Asisa Omar etwa lebt mit seiner achtköpfigen Familie in einem einzigen Zimmer in einer Asylunterkunft im Kanton Graubünden. Seit drei Jahren warten sie vergeblich auf den Asylentscheid.

Der siebzehnjährige Ronas Kader fragt: «Bin ich als Asylant denn kein Mensch?» Eine junge Mutter stellt ihre Tochter vor sich hin und stösst in verzweifeltem Ton hervor: «Demokratie, Schweiz ... Wir keine Hunde!» Mit dem Status der «vorläufigen Aufnahme» sei es kaum möglich, eine Wohnung oder eine Arbeitsstelle zu finden. Und mit dem N-Ausweis, also dem Status des Asylsuchenden, könne man sein Leben überhaupt nicht selbst bestimmen, so der Tenor.

Am Dienstag fand ein Treffen zwischen einigen Protestierenden, einem Vertreter der Gemeindeexekutive und dem BFM-Direktor Mario Gattiker statt. Das Resultat war für die Menschen aus Syrien ernüchternd: Gattiker habe lediglich versprochen, dass alle, die ihr Asylgesuch im Jahr 2009 oder früher gestellt hatten, spätestens bis Ende des Jahres einen Entscheid erhalten werden. Für die meisten syrischen Asylsuchenden ändert sich dadurch nichts, denn sie sind erst nach Ausbruch des Bürgerkriegs in die Schweiz geflohen. «Eine Sonderbehandlung erfolgt nicht», sagt BFM-Mediensprecherin Gaby Szöllösy gegenüber der WOZ.

Das BFM kommt den Forderungen der Protestierenden nur dadurch entgegen, dass sie kommende Woche nochmals eine Delegation empfangen wird. Dabei will das Amt darüber informieren, wie mit Gesuchen umgegangen wird, die nach 2009 eingereicht wurden.

Von den Betroffenen denkt offenbar niemand daran, sich zurückzuziehen. Im Gegenteil: Vierzehn Personen befinden sich seit Dienstag im Hungerstreik. Auch Mütter sind entschlossen, mit ihren Babys unter dem Veloabstellplatz auszuharren. Denn, so ein Protestierender: «So, wie mit uns umgegangen wird, gehen wir psychisch kaputt. Lieber werden wir weggewiesen und suchen anderswo Schutz, als hier jahrelang tatenlos auf einen Entscheid zu warten.»

Selina Stucki