Kost und Logis: Ich bin auch ein Hotel

Nr. 37 –

Freuden und Leiden einer Gastgeberin.

Ich würde lügen, wenn ich behauptete, ich hätte eine gute Kinderstube gehabt. Meine war eine Gaststube, in der ich viel Interessantes lernte: Menschenkunde, unanständige Witze, Prozentrechnen bei Trinkgeld oder wie Alkohol wirkt, aber wenig über altersgerechte kindliche Artigkeit.

Die LehrerInnen verwechselten meine etwas raue Art mit Verwahrlosung. Deshalb stürzte ich mich eine Zeit lang auf Gilberte de Courgenay als Rollenmodell, die als keusches, hübsches Wirtstöchterchen im Ersten Weltkrieg die Soldatenherzen erfreute und zur patriotischen Kultfigur wurde. Als sich dieser Irrweg ausgewachsen hatte, verschlang ich Hotelromane, floh aus der elterlichen Wirtschaft in Vicki Baums «Hotel Shanghai» und Arthur Haileys «Hotel» in New Orleans.

Diese Faszination konnte ich nie ablegen, schliesslich führt meine halbe Verwandtschaft eine «Krone» oder einen «Bären». Wirtin oder Koch ist für sie nicht bloss Beruf, sie waren es von Geburt an, wie man zu einer Kaste gehört. Meine Mutter, von Verwandten in deren Hotel mit harter Arbeit erzogen, träumte ihr Leben lang davon, selbst eines zu führen. Sie schwärmte vom Onkel, der in seinen Lehr- und Wanderjahren am Anfang des letzten Jahrhunderts die Welt kennenlernte und sogar den deutschen Kaiser, für den er im Berliner Hotel Adlon am Tisch den Braten tranchieren durfte.

Mutters Traum ging nie in Erfüllung, sie musste sich mit dem Zweitbesten zufriedengeben, dem Leben als Wirtin. Ihre Vorstellung von Glück: eine endlose Reihe von Fünfzehnstundentagen, unterbrochen vom Wirtesonntag und gekrönt von der Anerkennung zufriedener Gäste für ihre Kochkünste und die prächtigen Geranien.

Da ich den Rat meines Mathelehrers, doch gescheiter ein Hotel zu führen als zu studieren, in den Wind schlug, beschränkt sich nun meine Gastgeberinnenrolle aufs Privatleben. Dauerhaft haben bei mir nur zwei Katzen Kost und Logis, auf Viersterneniveau schlafen sie in mit Lammfell ausgelegten Bordeaux-Kisten. Oft beherberge ich auch lebende Beute wie Mäuse, Eidechsen und gelegentlich eine Viper. Letztere mag ich nicht, weil ihr unangemeldeter Besuch mich meine Würde verlieren lässt. Den Eidechsen passt es nicht unter meinem Dach, sie legen sich zum Sterben unter das Kanapee und stinken, bis ich sie finde. Am besten gefällt es den Mäusen. Sie installieren sich unter dem Kühlschrank oder bauen ein Nest im Isoliermaterial. Doch manchmal haben sie Pech. Dann gehört es zu meinen Pflichten als Gastgeberin, die von der Falle nur schräg getroffenen oder von der Katze nur halb erledigten Tiere ganz totzuschlagen.

Das ist das Schöne an einem Hotel: Die Welt kommt zu dir. Zwar kannst du die Gäste nicht auswählen, doch es ist nie langweilig, und du bist nie allein.

Ruth Wysseier ist Wirtstochter und Winzerin am Bielersee.