Kulturherbst Winterthur: Wozu braucht die Möwe einen Tampon?

Nr. 37 –

Für kurze Zeit durfte der Schweizer Fotograf Lukas Felzmann die abgeschirmten Faralloninseln besuchen. Dort beobachtete er ForscherInnen bei ihrer Arbeit – und entdeckte eine Schachtel bizarren Inhalts. Was er damit anstellte, ist jetzt in Winterthur zu sehen.

Die Faralloninseln liegen 48 Kilometer vor San Francisco im Pazifischen Ozean. Felsen eigentlich nur, aber als Habitat für etliche Vogel- und Fischarten von unschätzbarem Wert. Die Inseln stehen unter strengem Naturschutz: Ausser sich abwechselnden WissenschaftlerInnen – immer einer Handvoll aufs Mal – darf niemand in ihre Nähe. Die offizielle EinwohnerInnenzahl ist mit «3» angegeben, es gibt zwei Häuser. Flüge zu den und über die Inseln sind verboten.

Seit kurzem müssen die grossen Tanker, die von China herkommend den Hafen von San Francisco ansteuern, in grösserer Entfernung um die Inseln herumfahren. WalforscherInnen hätten nach jahrelanger Arbeit nachgewiesen, dass die Säugetiere durch diese Routenänderung weniger gestört werden, sagt der Schweizer Fotograf Lukas Felzmann.

«Wir haben die Natur verloren»

Felzmann selber hatte das seltene Glück, die Insel, auf der die ForscherInnen stationiert sind, mehrmals besuchen zu können. Er stellte seine grossformatige Fachkamera auf, richtete sie zunächst auf die felsige Insel und die unzähligen dort nistenden Vögel, viele davon Möwen. Schliesslich interessierten ihn die WissenschaftlerInnen mehr und mehr, er fing an, ihre Arbeitsinstrumente zu fotografieren – und stiess dabei auf eine Kartonschachtel, die mit «Gull Juju» angeschrieben war. In ihr lagen verwitterte Objekte, von einer Plastikente über einen Schlüssel bis zu einem Tamponapplikator und einer halben Kreditkarte.

Auf den ersten Blick Objekte ohne Beziehung zueinander. Ausser, dass es Produkte von Menschen sind. Die Forschenden klärten ihn auf: Möwen hatten die Dinge auf dem Festland aufgepickt, verschluckt und auf die Insel mitgenommen. Dort lagen die mehrheitlich aus Plastik bestehenden Teile, herausgewürgt, in Nestern. Die ForscherInnen fanden sie und legten sie in die Schachtel, die irgendjemand mit «Gull Juju» beschriftet hatte, wobei «Gull» das englische Wort für Möwe ist und «Juju» in Afrika für Medizin, Glück oder Magie stehen kann. Lukas Felzmann fotografierte auch diese Objekte. Seit letztem Wochenende sind die Aufnahmen im Rahmen des Winterthurer Kulturherbsts, der heuer die Schnittstellen zwischen Kunst und Wissenschaft auslotet, in der Fotostiftung Schweiz zu bestaunen.

Es ist eine typische Arbeit für den 54-Jährigen, der sich Zeit nimmt für seine Erkundungen. Für sein Buch «Swarm» hat Lukas Felzmann über Jahre hinweg den richtigen Ort und die richtige Zeit gesucht, um Vogelschwärme zu finden. Und dann hat er diese in ihrer formalen Perfektion gestochen scharf festgehalten. Es sind faszinierende Bilder von Architektur am Himmel. «Und von hierarchieloser Kontrolle», so Felzmann. «Ein Schwarm von kleinen Vögeln bewegt sich ja synchron, irrsinnig schnell und kontrolliert. Und das Ganze ohne Anführer. Etwas, das wir Menschen auch mal kannten, aber verloren haben.» Er ist überzeugt: «Wir haben die Natur verloren und gehen deshalb raus und zurück zu ihr, um sie wieder kennenzulernen.»

Wissenschaftliche Tagebücher

Felzmann ist in Dietikon ZH aufgewachsen. Nach der Ausbildung zum Primarlehrer ging er nach San Francisco, um an der dortigen Kunstschule ein Jahr Fotografie zu lernen. Er ist bis heute geblieben, unterrichtet mittlerweile selber Fotografie an der Stanford University. Nebst den Fotobüchern, die er veröffentlicht hat – zuletzt «Landfall» –, realisierte er auch Installationen. «Das Buch ist aber mein Medium», sagt der Sohn eines Verlegers. Es sind die Menschen und die Geschichten, die ihn interessieren.

Wobei er Geschichten erzählt, ohne auf Buchstaben zurückzugreifen, und den Menschen auch dort sieht, wo auf den ersten Blick nur menschenleere Weite zu erkennen ist. Und den – um bei den Menschen zu bleiben – an den ForscherInnen fasziniert, wie diese nicht nur lange am gleichen Thema bleiben (noch viel länger als er selber), sondern auch, dass sie zusammen daran arbeiten. «Wir Kunstschaffenden arbeiten immer für uns selbst. Auf dem Kunstmarkt geht es darum, so individuell wie möglich zu sein – das wird zelebriert. Die Wissenschaftler hingegen vernetzen sich.»

Auf den Inseln sieht das laut Felzmann so aus: «Einer zählt beispielsweise jeden Tag die Vögel. Nach drei Monaten geht er, und eine andere Person fährt mit der Zählung fort. Das gibt eine wunderbare Vernetzung und eine kommunikative Art, etwas zu erschaffen: Alle tragen ihre Daten in ein gemeinsames dickes Buch ein.» Zusammen bilden diese über die Jahre entstandenen Tagebücher die «Farallon Journals», die jetzt digitalisiert werden sollen.

Dass sich Felzmann so sehr für ihre Arbeit, ihre Werkzeuge und diese Dinge, die die Möwen angeschleppt hatten, interessierte, fanden die Forschenden übrigens etwas komisch. So zumindest der Eindruck des Fotografen. Das hielt ihn aber nicht davon ab, beim nächsten Besuch ein schwarzes und ein weisses Tuch mitzunehmen und die Gull-Juju-Objekte zu fotografieren. Jedes einzelne – «weil die Auswahl ja bereits von den Möwen getroffen worden war».

Hübsch sehen sie aus, so liebevoll ins Zentrum gerückt – und auch ein wenig irritierend, wenn man die Geschichte dazu kennt. Weshalb die Möwen ausgerechnet diese Dinge auswählten und was sie mit ihnen bezweckten, wissen bis heute noch nicht einmal die WissenschaftlerInnen.

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