Beruf und Geschlecht: Berufswahl mit Tunnelblick

Nr. 38 –

Das Schweizer Berufsbildungssystem gilt als vorbildlich. Zumindest aus Geschlechterperspektive ist es das aber keineswegs, wie eine neue Studie zeigt.

In der Schweiz arbeiten Frauen überwiegend in frauentypischen Berufen wie Pflegerin oder Kindergärtnerin, während die meisten Männer diese Berufe meiden. Das zeigt eine jüngst publizierte Studie des Nationalen Forschungsprogramms «Gleichstellung und Geschlecht». Von 6000 Jugendlichen, die das Basler Forschungsteam über zehn Jahre hinweg verfolgt hat, haben nur gerade 22 Frauen und 20 Männer einen geschlechtsuntypischen Beruf gewählt und diesen mit 25 Jahren noch ausgeübt.

«Neu ist diese Erkenntnis nicht», sagt Andrea Egli, Präsidentin von Profunda Suisse, dem Verband der Fachleute für Laufbahnentwicklung. «In der Berufsberatung ist das seit zwanzig Jahren ein zentrales Thema.» Jugendliche würden explizit dazu ermuntert, in geschlechtsuntypischen Berufen zu schnuppern – und sie zeigten auch durchaus Interesse für solche Berufe. Beim Schnuppern. Nicht jedoch in der Wahl der Lehrstelle. «Trotz all der Anstrengungen kommen wir einfach nicht weiter, das frustriert mich», sagt Egli. «Ich stosse im Gespräch mit den Jugendlichen und ihren Eltern immer wieder an dieselben Grenzen.»

Frühe Berufswahl ein Problem

«Unser Berufsbildungssystem gilt überall als Vorzeigemodell – aus Geschlechterperspektive ist es das nicht.» So das Fazit von Karin Schwiter, Koautorin der Basler Studie. In der Schweiz müssen sich Jugendliche viel früher als im übrigen Europa für einen Beruf entscheiden und auf dem einmal eingeschlagenen Ausbildungsweg bleiben. «Die berufsbiografischen Weichen werden just in jener Lebensphase gestellt, in der die Jugendlichen sich intensiv mit ihrer eigenen Geschlechtsidentität auseinandersetzen», sagt Schwiter. «In dieser Zeit ist geschlechterstereotypes Denken sehr ausgeprägt, man will sich geschlechtskonform verhalten.» Einer der 33 Jugendlichen, mit denen sie und ihre KollegInnen vertiefende Interviews geführt haben, erzählte ihr, für ihn sei in der Sekundarschule sonnenklar gewesen, dass Männer sich für technische Berufe interessierten und Frauen für soziale.

Unter LehrerInnen habe die Studie ein grösseres Echo ausgelöst, sagt Jürg Brühlmann, Leiter der Pädagogischen Arbeitsstelle beim Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer. «Für viele von uns war doch überraschend, dass der Entscheid für oder gegen gewisse Berufe bereits so früh fällt.» Es gelte, schon auf der Primarstufe vermehrt Geschlechterfragen zu thematisieren und den Kindern Gelegenheiten zu bieten, die Arbeitswelt und insbesondere Menschen in geschlechtsuntypischen Berufen kennenzulernen.

Auch Andrea Egli ist überzeugt, dass eine Sensibilisierung bereits im Kindesalter beginnen muss: «Die Kampagnen von Firmen und Verbänden, die für ihre männertypischen Lehrstellen explizit Frauen anwerben wollen, nützen zu wenig.» «Es braucht mehr als ‹Girls’ Days›», sagt auch Karin Schwiter.

Wie weg von stereotypen Berufen?

Damit Jugendliche einen Beruf wählen, in dem das andere Geschlecht dominiert, brauchen sie Vorbilder und MentorInnen. Schwiter erzählt von einer jungen Frau, die als Elektrikerin arbeitet. Kennengelernt hat sie den Beruf zu Hause: Ihre Eltern führen ein Elektrikergeschäft, und sie haben ihre Tochter in ihrer Berufswahl unterstützt. Trotzdem muss die junge Elektrikerin jedes Mal, wenn sie auf eine Baustelle kommt, von neuem um Akzeptanz kämpfen.

Wer sich in einem geschlechtsuntypischen Berufsfeld behaupten kann, verfügt über besondere persönliche Ressourcen und viel Selbstbewusstsein. So das Fazit der Basler Studie aus den 42 genauer analysierten Fallbeispielen. Namentlich für junge Männer ist der Rechtfertigungsdruck im Freundeskreis hoch. «Warum willst du in deinem Job denn Babypopos putzen?» sei eine Bemerkung, die sich ein Jugendlicher, der sich zum Kinderbetreuer ausbilden lässt, immer wieder gefallen lassen müsse, sagt Schwiter.

Und wozu das Ganze? Namentlich für Männer lohnt es sich gar nicht, einen frauentypischen Beruf zu wählen. Das ist die wohl erschütterndste Bilanz der Basler Studie. Frauentypische Berufe besitzen einen geringen gesellschaftlichen Status, sie werden niedrig entlöhnt und bieten kaum Aufstiegschancen.

«Hier sind der Arbeitsmarkt und insbesondere die staatlichen Arbeitgeber in der Pflicht», sagt Karin Schwiter. «Ein voller Lohn für eine Pflegerin oder einen Kinderbetreuer muss existenzsichernd sein, auch für eine Familie.» Bei männertypischen Berufen gelte es, die Arbeitsorganisation flexibler zu gestalten – «weg von der Vorstellung, der Mann müsse am Arbeitsplatz stets präsent sein, zu Hause sei ja die Mutter, die ihm dafür den Rücken freihalte». Andernfalls zwingt der Arbeitsmarkt jungen Menschen weiterhin einen geschlechterstereotypen Lebensentwurf auf.