Kenia und der Internationale Strafgerichtshof: Die Vergangenheit hinter sich lassen

Nr. 38 –

Die Angst, dass die juristische Aufarbeitung blutiger Unruhen für neue Konflikte sorgen könnte, wird in Kenia bewusst geschürt.

Maina K. wurde über Nacht vom Kronzeugen zum Lügner. Nachdem ihn angebliche Freunde vor laufenden Kameras bezichtigt hatten, käuflich zu sein, zog er Anfang März seine Aussage zurück. K. ist einer von vielen ZeugInnen, die Fatou Bensouda, der Chefanklägerin am Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag, im Prozess gegen Kenias Präsidenten Uhuru Kenyatta und seinen Vize William Ruto abhandengekommen sind. Gegen Ruto wird seit dem 10. September verhandelt, Kenyattas Prozess soll im November beginnen. Beiden werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen.

Eigentlich sollten die Namen der ZeugInnen des ersten Prozesses, der vor dem ICC gegen amtierende Regierungsmitglieder stattfindet, geheim sein. Seit den blutigen Unruhen, die den Wahlen Ende 2007 folgten, leben sie in geheimen Unterkünften. Doch je näher der Prozess gegen die vermeintlichen Drahtzieher der Unruhen rückte, desto mehr von den Versteckten wurden an die Öffentlichkeit gezerrt und denunziert. In der aufgeheizten Atmosphäre zogen mehrere ZeugInnen ihre Aussagen mit spektakulären Begründungen zurück – etwa der, sie seien von Menschenrechtlern bestochen worden.

Der Journalist Andrew Teyie zeichnet ein anderes Bild: So habe einer der Zeugen, der im Februar seine Aussage gegen Ruto zurückgezogen hatte, sich kurz darauf ein grosses Stück Land und einen protzigen Geländewagen zugelegt. «Niemand im Dorf kann sich erklären, woher der einfache Bauer auf einmal das Geld hat», sagt Teyie.

Fast sechs Jahre ist es her, dass kenianische Spitzenpolitiker ihre AnhängerInnen gegeneinander aufhetzten und Ressentiments zwischen den ethnischen Gruppen schürten. Über 1000 Menschen starben, rund 600 000 wurden vertrieben. Die im April 2012 in die Regierung gewählten Kenyatta und Ruto, zuvor noch erbitterte Widersacher, sollen das schlimmste Blutbad in Kenias Geschichte orchestriert haben. Es geht um Massaker wie das in einem Dorf unweit der Grossstadt Eldoret im Westen Kenias.

Die Wunden sind nicht verheilt

Die BewohnerInnen erinnern sich noch genau an den Neujahrstag 2008: «Wir haben Schreie gehört und sind mit Macheten und Schlagstöcken zur Kirche gelaufen, aus der schwarzer Rauch aufstieg», sagt Peter Njoroge. «Aber es waren einfach zu viele Gegner.» Angreifer hatten die Kirche während des Mittagsgottesdiensts von aussen verbarrikadiert und dann angezündet. Dreissig Menschen verbrannten bei lebendigem Leib. Für Njoroges Nachbarn Frederic Ndeche stand schon damals fest, wer für den Überfall auf die Kikuyu-Gemeinde verantwortlich ist: «William Ruto, er war der Scharfmacher, er hat die Kalenjin aufgehetzt.» Die Ethnie der Kalenjin stellt in der Gegend die Mehrheit.

Bis heute sind die Wunden nicht verheilt, doch viele KenianerInnen wollen die Vergangenheit hinter sich lassen. «Vor anderthalb Jahren habe ich mehr als eine Million Unterschriften für einen Prozess vor dem ICC gesammelt», sagt Ngunjiri Wambugu, Direktor eines kenianischen Thinktanks. «Heute würde ich das nicht mehr tun – und ich glaube, dass ich heute nur noch wenige Unterschriften bekommen würde.» Wambugus Kritik: Der ICC nehme keine Rücksicht auf die Folgen des Verfahrens. «Es mag sein, dass die Opfer der Unruhen keine Gerechtigkeit erfahren, und das ist schlecht – aber wenn wir weiter für Gerechtigkeit kämpfen, dann könnte das den Frieden aufs Spiel setzen, den wir heute in Kenia haben.» So denkt nicht nur Wambugu. Die Angst vor neuen Unruhen wird bewusst geschürt – und sie wiegt für die Mehrheit der KenianerInnen, die täglich gegen die eigene Armut ankämpfen, schwerer als eine juristische Ungerechtigkeit.

Im Wahlkampf stellten sich Kenyatta und Ruto als Opfer der internationalen Justiz dar. Der ICC wurde als Unterdrücker eines unabhängigen afrikanischen Staates gebrandmarkt. John Githongo, einst oberster Korruptionsbekämpfer des Landes, nennt das eine der «brillantesten politischen Manipulationen». Ruto und Kenyatta hätten sich damit innerhalb ihrer ethnischen Gruppen zu mächtigen Führern aufschwingen können. Kenyatta half es, dass er der Sohn des Staatsgründers ist, ein Medienmogul und einer der Reichsten des Landes.

Verschwundene ZeugInnen

Mwalimu Mati, Direktor der Menschenrechtsorganisation Mars Group Kenya, ist überzeugt: «Die Zukunft Kenias soll dem politischen Überleben zweier Männer geopfert werden.» Einen Beschluss des Parlaments, künftig nicht mehr mit dem ICC zu kooperieren, sieht er als ersten Schritt in diese Richtung.

So deutlich äussern sich wenige. Schliesslich sind manche BelastungszeugInnen nicht nur blossgestellt worden, sondern gar verschwunden. Der Anwalt Paul Muite, der Angehörige vertritt, sagt: «Die Schicksale der Verschwundenen ähneln sich – sie könnten hingerichtet worden sein.» Ermittlungen der Polizei blieben ergebnislos.

Kenianische Schriftsteller haben den Verschwundenen ein virtuelles Denkmal gesetzt: Auf ihrem Blog «ICC Witness Project» erinnern sie mit Gedichten an sie – wie auch an die Opfer der Unruhen. Das ist ein seltener Lichtblick in einem Land, in dem der Kampf um die Macht nun zwar mit etwas anderen Mitteln, aber unveränderter Härte fortgeführt wird. Bis heute lebt Kenia in kollektiver Angst vor seiner politischen Klasse, die mit rücksichtslosen Mitteln das Land in Schach hält.