Brasilien: Die grosse Wut im «Land der Zukunft»

Nr. 39 –

Brasilien zeigt sich selbstbewusst: Die sechstgrösste Volkswirtschaft der Welt strebt einen Sitz im Uno-Sicherheitsrat an, und Präsidentin Dilma Rousseff bietet in der NSA-Spionageaffäre den USA gerade die Stirn. Im Land selbst steht Rousseffs Arbeiterpartei nach zehn Jahren an der Macht allerdings stark in der Kritik.

Der Fernsehspot dauert rund dreieinhalb Minuten und besteht einzig aus Zahlen, Errungenschaften und Rekorden. Von triumphaler Musik unterlegt, verkündet eine Männerstimme: «36 Millionen Brasilianer sind der extremen Armut entkommen», «40 Millionen Brasilianer sind in die Mittelschicht aufgestiegen», «19 Millionen versicherungspflichtige Jobs sind entstanden», «Bolsa Família – bestes Sozialtransferprogramm der Welt», «Brasilien ohne Elend – grösstes Armutsbekämpfungsprogramm der Welt», «Brasilien – zweitgrösster Nahrungsmittelexporteur der Welt», «Niedrigste Zinsen der Geschichte», «Elektrizität für 14,7 Millionen Menschen», «Fussball-WM 2014, Olympische Spiele 2016», «Brasilien, weltweit führend im Umweltschutz».

So geht das immer weiter – bis der Bildschirm am Ende weiss wird und die Stimme sagt: «PT – zehn Jahre an der Regierung.» Dazu wird der fünfzackige rote Stern eingeblendet, das Symbol von Brasiliens Arbeiterpartei, dem Partido dos Trabalhadores (PT).

Der PT kam im Januar 2003 an die Macht, als der ehemalige Gewerkschafter Luiz Inácio Lula da Silva zum Präsidenten des fünftgrössten Landes der Erde gewählt wurde. Lula hatte die Partei 22 Jahre zuvor als linke Opposition zum damaligen diktatorischen Militärregime mitgegründet. Er gewann die Menschen mit dem Versprechen für sich, endlich die Armut und die eklatante Ungleichheit zu verringern. Eine gerechtere, demokratischere Nation sollte entstehen und der immense Reichtum des Landes allen zugutekommen.

Schon bald nach dem Wahltriumph rief Lula gross angelegte Sozialprogramme ins Leben – etwa die Bolsa Família, eine Art Grundsicherung für die Armen –, die auch dadurch möglich wurden, dass dank hoher Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt viel Geld in die Staatskasse sprudelte und das Land den Globus mit Soja, Zucker und Eisenerz regelrecht überschwemmte. Das Wirtschaftswachstum betrug in den Folgejahren durchschnittlich vier Prozent, Brasilien eliminierte seine Schulden beim Internationalen Währungsfonds, und der Mindestlohn wurde kontinuierlich angehoben, von 200 Real auf heute 678 Real, umgerechnet knapp 280 Franken.

Demonstrationen ohne roten Stern

2010 wählten die BrasilianerInnen dann Lulas Parteikollegin Dilma Rousseff zur Präsidentin. Sie setzte dessen Kurs der Exporte und Sozialprogramme fort. Auch international wurde Brasilien jetzt als das «Land der Zukunft» betrachtet. Die britische Zeitschrift «The Economist» titelte 2010 zum Bild einer fliegenden Christusstatue: «Brasilien hebt ab». Alles schien gut zu sein, und es war ausgemachte Sache, dass Rousseff bei den Wahlen im Oktober 2014 wiedergewählt wird.

Bis, ja, bis dann im Juni dieses Jahres für die meisten BeobachterInnen völlig überraschend mehrere Millionen wütende BrasilianerInnen auf die Strasse gingen und eine gerechtere und demokratischere Nation forderten. Sie verlangten bessere Schulen, bessere Krankenhäuser, bessere Verkehrssysteme, mehr Sicherheit und ein Ende der Korruption in Politik und Wirtschaft. «Entschuldigen Sie die Störung», stand auf vielen Plakaten, «wir verändern gerade Brasilien.» Den roten Stern der PT sah man auf den Demonstrationen so gut wie nie. Aber dort, wo er auftauchte, kam es sofort zu Gerangel und Schlägereien. «Wir haben die Nase voll von Brasiliens Parteien», hörte man häufig. Und auch den Slogan: «Dilma raus!»

Was war passiert? Das schöne Bild, das Brasiliens Regierung vom Land malte, stimmte nicht mit den täglichen Erfahrungen der DemonstrantInnen überein. Hatte der Aufstieg Brasiliens zur sechstgrössten Ökonomie der Welt zwar für viele Menschen persönliches Fortkommen bedeutet, so schlug er sich doch nicht in echten Reformen nieder. Viele BrasilianerInnen fühlten sich jetzt zwar als KonsumentInnen ernst genommen, aber nicht als BürgerInnen. Und wie kann es sein, fragten sie sich, dass ihre öffentliche Infrastruktur immer noch der eines Entwicklungslands entspricht?

Dass all diese Widersprüche just in einem Moment aufbrachen, in dem die Wirtschaft stagnierte, die Lebenshaltungskosten dramatisch stiegen und die Regierung das Land für die sportlichen Grossereignisse herauszuputzen begann, war für viele kein Zufall.

Drastischer Stadtumbau

Schnell war klar, dass die Protestbewegung nicht mit einer Stimme sprach, sondern sich aus vielen unterschiedlichen Interessengruppen und Organisationen zusammensetzte, die sich für einen kurzen historischen Moment vereint hatten, um ihre Enttäuschung über eine Regierung zu artikulieren, die sie einst als Verbündete betrachtet hatten. Der PT, so ihr Vorwurf, wage sich nicht an die Veränderung der politischen und ökonomischen Strukturen, die die Wurzeln für Brasiliens Grundübel seien: Korruption und Ungleichheit.

Ein übergreifendes Thema bei den Protesten war der Umbau von Brasiliens Städten und der Anstieg der Wohnungspreise. Als Indikator dafür gilt der durchschnittliche Quadratmeterpreis, der heute beim Kauf einer städtischen Wohnung umgerechnet über 3000 Franken beträgt. Der Stadtforscher Gustavo Mehl von Rio de Janeiros Bundesuniversität UFRJ bezeichnet den Prozess ironisch als «Aufwertung». Mehl ist Sprecher des Volkskomitees zu WM und Olympia, eines Bündnisses von Bürgerbewegungen, das gegen die drastischen Eingriffe kämpft, denen Rio im Vorfeld der Grossereignisse unterzogen wird. Das Bündnis hat sich über die Jahre den Ruf erarbeitet, seriöse Daten zu sammeln, kohärent zu argumentieren und Irregularitäten aufzudecken. Ausserdem hat es Ableger in anderen WM-Austragungsorten und spielt bei den Massenprotesten eine mobilisierende Rolle. Man könnte sagen, dass es stellvertretend für eine Vielzahl vieler neuer linker Gruppierungen steht, die sich um spezifische Themen herum gebildet haben, ohne sich politisch vereinnahmen zu lassen oder Führerschaft zu beanspruchen.

Auf einer Diskussionsveranstaltung Mitte September zu «Mega-Events und Menschenrechtsverletzungen» in Rios Stadtteil Lapa bringt Gustavo Mehl die Entwicklung der Stadt auf den Punkt: «Es findet eine gewaltsame Umstrukturierung statt. Die Armen werden mit fragwürdigen Begründungen an die Peripherien gedrängt, während das Zentrum für die Reichen hergerichtet wird. Diesen Prozess beobachten wir in zahlreichen Orten Brasiliens. Die Interessen der Reichen gehen vor dem Allgemeinwohl.»

Der Zorn des dreissigjährigen Mehl richtet sich dabei nicht gegen eine bestimmte Partei. Zwar gehören der Bürgermeister der Stadt Rio und der Gouverneur des gleichnamigen Bundesstaats zur konservativen Partei PMDB, doch es ist ein Parteienbündnis, das sie an der Macht hält. Eine massgebliche Rolle in diesem Bündnis spielt der PT. In Rio etwa leitet er die wichtige Bauverwaltung, die über die umstrittenen Umsiedlungen von FavelabewohnerInnen aus potenziell lukrativen Gegenden an den Stadtrand entscheidet – und dazu auch das Regierungsprogramm «Mein Haus, mein Leben» instrumentalisiert. Rio werde von den Immobilien- und Baukonzernen regiert, sagt Mehl. Und dass es nicht das erste Mal in der Geschichte sei, dass die Stadt für die Bedürfnisse der Vermögenden zurechtgemacht werde. «An den Machtstrukturen hat sich nichts geändert», so Mehl.

Konsum steigt, Ungleichheit bleibt

Dieser Analyse schliesst sich Sonia Fleury an. Die 63-jährige Politologin lehrt an der renommierten Getúlio-Vargas-Stiftung in Rio de Janeiro und ist wegen ihrer pointierten Meinung eine gefragte Kommentatorin in brasilianischen Medien. Bei einem Besuch in ihrer Wohnung im Stadtteil Humaitá erklärt sie die Proteste so: «Der PT hat zehn Jahre lang versucht, soziale Integration mittels Steigerung der Kaufkraft herzustellen, aber nicht über die Schaffung einer egalitären Gesellschaft. Viele haben jetzt Kreditkarten, jedoch nicht das Gefühl, Teil der Gesellschaft zu sein», sagt Fleury. «Die Inklusion über den individuellen Konsum ist gescheitert. Die kollektiven Güter, die entscheidend für die Lebensqualität sind, wurden völlig vernachlässigt: Bildung, öffentlicher Nahverkehr, Gesundheit, Sicherheit.»

Es stimme zwar, gesteht Fleury zu, dass der PT viel in den Kampf gegen die Armut investiert und in kurzer Zeit sichtbare Ergebnisse erzielt habe. Doch erstens sei das Niveau sehr tief – zur Mittelklasse zählt man nach den Kriterien der Regierung bereits ab einem Monatseinkommen von 291 Real, umgerechnet knapp 120 Franken; und zweitens sei das Projekt der Verfassung von 1988 aufgegeben worden, die den Aufbau eines universellen Gesundheits- und Bildungssystems vorsieht: ein Sozialstaat, der wirkliche Chancengleichheit bietet. Zwar garantiert die Verfassung das Recht auf Bildung für alle. Doch in der Praxis herrscht ein Klassensystem, weil die öffentlichen Schulen in einem katastrophalen Zustand sind. Nur diejenigen, die die nötigen Mittel mitbringen, um sich privat weiterzubilden, sind anschliessend in der Lage, eine Universität zu besuchen. Ähnlich verhält es sich im Gesundheitssystem: Wer arm ist, muss unter Umständen stundenlang im Krankenhaus auf Betreuung warten, selbst wenn er oder sie schwer krank, schwanger oder verletzt sein sollte.

Fleury erkennt auch an, dass Dilma Rousseff als einzige Politikerin ernsthaft versucht habe, auf die Massenproteste zu antworten, indem sie ein Plebiszit über eine umfassende Reform des politischen Systems vorschlug. Doch der Vorstoss wurde vom Kongress, der von zahlreichen Parteien und Partikularinteressen dominiert wird, abgeschmettert. «Daran ist der PT selbst schuld», sagt Fleury. Er hat sich zum Machterhalt mit den alten Eliten des Landes ins Bett gelegt, die jeden strukturellen Wandel bekämpfen. Die sozialen Bewegungen, mit deren Hilfe er an die Macht gekommen war, ignorierte der PT hingegen. «Ich unterstütze den PT», sagt Sonia Fleury. «Aber der Partei ist die Fähigkeit abhandengekommen, Widerspruch auszuhalten. Man hat mich auf Versammlungen nicht reden lassen, sondern diffamiert. Auch wenn man den PT von links kritisiert, wird man als Feind betrachtet.»

Die Umwelt hat verloren

Zu den Eliten, von denen Fleury spricht, zählt Brasiliens Agrarindustrie. Sie betreibt die stetige Ausdehnung ihrer riesigen Latifundien ohne Rücksicht auf ökologische Folgen. Wenn man heute Brasilien im Flugzeug von Süd nach Nord überquert, ist man geschockt über die riesigen baumlosen Flächen mit landwirtschaftlicher Monokultur. Stundenlang sieht man am Boden nur Sojafelder und Rinderweiden.

Im aufgeräumten Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro richtet sich die Umweltexpertin Maureen Santos ein. Sie hat gerade ihre neue Stelle angetreten. «Damals, als Lula gewählt wurde», sagt sie, «hatten wir grosse Hoffnungen. Sie beruhten auf einem Missverständnis.» Wie die meisten UmweltschützerInnen ist Santos tief enttäuscht von der Arbeiterpartei. Der PT sei eine «Entwicklungslinke», sagt sie, die einzig auf die Wirtschaft setze. Das bedeute, dass die kurzfristigen Interessen der Exportindustrie den langfristigen Interessen der Umwelt vorgezogen würden: «Jeder Gedanke an Nachhaltigkeit ist dieser Regierung fremd.»

Es habe bereits 2003 mit der Zulassung für gentechnisch verändertes Saatgut angefangen, beginnt Santos ihre lange Liste mit Klagen. 90 Prozent der brasilianischen Sojabohnen sind heute genmanipuliert, ebenso 60 Prozent der Maisernte und 55 Prozent der Baumwolle. Damit einher gehe der erhöhte Einsatz von Breitbandpestiziden. «Keine Bevölkerung der Welt nimmt heute mehr Agrochemikalien mit ihrer Nahrung zu sich als die brasilianische», sagt Santos. Im Schnitt seien es jährlich 5,2 Liter pro Person. Die Fläche, auf der heute Sojabohnen in Brasilien, dem zweitgrössten Produzenten der Welt, angepflanzt werden, beträgt rund 28 Millionen Hektaren – die 3,5-fache Fläche Österreichs. Im Jahr 2001 war es nur halb so viel. Und die Industrie drängt weiter auf Expansion. In Brasiliens Kongress hat sie einen willfährigen Verbündeten.

Dieser stimmte letztes Jahr einem neuen Waldgesetz zu. Der Código Florestal sieht eine Amnestie für illegale Rodungen vor, ausserdem die Verkleinerung des Schutzwalds entlang von Flüssen um bis zu achtzig Prozent. «Aber was kann man schon erwarten», fragt Santos, «wenn der Vorsitzende des Umweltausschusses Blairo Maggi heisst?» Der ehemalige Gouverneur von Mato Grosso ist nicht nur der grösste Landbesitzer des Bundesstaats, sondern auch der grösste Sojabauer. In seiner Amtszeit wurde in Mato Grosso Regenwald in bis dahin nicht gekanntem Ausmass vernichtet. «Die Umwelt ist die grosse Verliererin der letzten Dekade», sagt Santos.

Und mit ihr die indigene Bevölkerung, die den Expansionsplänen der Industrie im Weg steht. Im März dieses Jahres zählte die Regierung 4500 Anträge internationaler wie brasilianischer Minenkonzerne, die in insgesamt siebzehn Indigenenreservaten nach Gold und Kupfer schürfen wollen. Nun befinden sich viele Indigene in erhöhter Alarmbereitschaft, denn von der Regierung Rousseff erwarten sie keine Hilfe mehr.

Vermehrte Besetzungen

Ebenso enttäuscht sind Landlose und KleinbäuerInnen. In Brasilien kontrollieren rund 50 000 landwirtschaftliche Grossbetriebe rund hundert Millionen Hektaren Land. Das sind fast fünfzig Prozent des Agrarbodens. Dennoch gewährte die Regierung 2010 diesen Grossbetrieben so viele Subventionen wie allen brasilianischen KleinbäuerInnen in den acht Jahren davor zusammen. Und das, obwohl die GrossbäuerInnen nur 420 000 Personen beschäftigen, während die Kleinbetriebe mehr als 14 Millionen Menschen Arbeit geben.

Für Alexandre Conceição aus der Führungsriege der Landlosenbewegung Movimento sem Terra (MST) ist das der letzte Beleg dafür, dass die Regierung die versprochene Landreform aufgegeben hat und auf die Agrarindustrie setzt. Im Interview sagt Conceição, dass in den letzten zwanzig Jahren keine Regierung weniger Grossgrundbesitz enteignet habe als die von Dilma Rousseff. Der MST-Führer fordert eine komplette Neuorganisation des Bodens zugunsten von kleinbäuerlichen Betrieben und kündigt an: «Wir werden wieder verstärkt ungenutztes Land besetzen.»

Tatsächlich haben die Landbesetzungen in Brasilien in den letzten Jahren zugenommen. Nicht nur landlose BäuerInnen greifen zu diesem Mittel, sondern auch immer mehr indigene Gruppen. Auf die Aktionen antworten die GrossgrundbesitzerInnen meist aggressiv. Der Conselho Indigenista Missionário (Cimi) registrierte 2012 einen Anstieg der gewalttätigen Vorfälle um 237 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Insgesamt 60 Indigene wurden 2012 umgebracht, 9 mehr als 2011. Die meisten Morde, 37, geschahen in Mato Grosso, Brasiliens Sojastaat. Seit 2003 wurden in Brasilien mehr als 500 Indigene getötet. Der Präsident der Cimi, der österreichische Bischof Erwin Kräutler, macht für den Anstieg der Morde den Staat mitverantwortlich, der zu nachlässig bei der Markierung und dem Schutz indigener Territorien vorgehe.

Im Juli 2013 traf sich Präsidentin Rousseff zum ersten Mal seit ihrem Amtsantritt mit einer Abordnung der indigenen Völker Brasiliens. Im Anschluss veröffentlichte das Präsidialamt ein Foto von ihr im Kreis lachender Indigener. Die an dem Treffen beteiligte Sônia Guajajara, Koordinatorin der Organizações Indígenas da Amazônia Brasileira (Coiab), kommentierte es zurückhaltend: «Unsere Beziehung lässt sich nicht anhand eines Fotos, sondern nur anhand von Taten beurteilen. Die Fakten zeigen, dass diese Regierung die Rechte der Indigenen jeden Tag verletzt.»

Die Protestbewegung schwächelt

Einen ähnlichen Satz sagt Paulo Cesar dos Santos. Der Geografielehrer ist leitendes Mitglied der linken Gewerkschaft Central dos Trabalhadores e Trabalhadoras do Brasil (CTB) in Rio de Janeiro. Am Rand einer erstaunlich kleinen Demonstration zum brasilianischen Unabhängigkeitstag am 7. September diskutiert er mit einem Jugendlichen, der sich als Anarchist bezeichnet. «Eure Steine, die ihr auf Banken werft, bringen zwar nichts», sagt dos Santos, «doch der wirkliche Vandale ist der Staat. Schau dir nur unsere Gehälter an.» Seit einigen Wochen streiken dos Santos und seine LehrerkollegInnen für höhere Löhne. Sie verdienen in Rio monatlich rund 2000 Real, umgerechnet 822 Franken. Im brasilianischen Durchschnitt liegt der Lehrerlohn noch viel tiefer. «Aber wir unterrichten vierzig Schüler pro Klasse und sollen die zukünftigen Bürger dieses Landes formen», sagt dos Santos. Es überrascht den 57-Jährigen nicht, dass Brasilien bei der Pisa-Studie auf Platz 53 von 65 Nationen landete. «Viele Lehrer sind selbst schlecht ausgebildet und überfordert.»

Dos Santos ist seit 25 Jahren Gewerkschaftsmitglied, vor seinem Job als Lehrer war er Metallarbeiter. Ausserdem gehört er der Kommunistischen Partei Brasiliens (PCdoB) an, die mit der CTB verbündet ist. Dass viele BeobachterInnen die Parteien und Gewerkschaften seit den Jugendprotesten an den Rand gedrängt sehen, hält dos Santos für Quatsch: «Man braucht feste Strukturen und eine Organisation, um politisch etwas verändern zu können.» An den jungen Anarchisten gewandt, sagt er: «Ihr habt noch nie irgendetwas verändert.» Die junge brasilianische Protestbewegung hat nach den Grossdemonstrationen im Juni, als der Fifa-Confed-Cup stattfand, nie mehr auch nur annähernd so viele Menschen mobilisieren können. Ihr derzeitiges Schwächeln hängt auch damit zusammen, dass die Bewegung horizontal organisiert ist und sowohl Führungspersönlichkeiten als auch feste Strukturen ablehnt. Sie hat es bisher versäumt, dem Protest eine neue, bleibende Form zu geben.

Gewerkschaftsmann dos Santos gibt allerdings zu, dass auch die letzte grosse Gewerkschaftsdemo Anfang Juli in Rio nur sehr dürftig besucht war. Ebenso schwach wurde zudem der Aufruf zu einem Generalstreik befolgt, obwohl ihn die meisten grossen Gewerkschaften unterstützt hatten. Hängt es damit zusammen, dass die Arbeiterorganisationen in Brasilien an Parteien gebunden sind und somit als Teil des etablierten Politiksystems gelten? Dos Santos verneint das: «Die jungen Menschen rufen jetzt, Brasilien sei aufgewacht. Dabei hat Brasilien nie geschlafen. Wir Arbeiter kämpfen seit dreissig Jahren für mehr Gerechtigkeit.» Es gehe völlig vergessen, dass nur der Druck der CTB dazu geführt habe, dass in den letzten Jahren die Jobs von zehn Millionen ArbeiterInnen formalisiert worden seien. Aber natürlich müssten sich auch die Gewerkschaften hinterfragen und sich an die neuen Realitäten und Kommunikationsformen anpassen.

Der PT-Regierung in Brasilia macht dos Santos einen weitverbreiteten Vorwurf: «Sie hat nie mit dem neoliberalen Entwicklungsmodell gebrochen. Brasilien ist weltweit immer noch eins der Länder mit der ungerechtesten Verteilung des Wohlstands.» Dem widerspricht selbst Präsidentin Rousseff nicht. Auf einer Wahlkampfveranstaltung Mitte September in Minas Gerais rief sie den ZuhörerInnen zu: «Es reicht nicht, wenn das Bruttoinlandsprodukt wächst. Es muss für euch wachsen. Unser Land war eines der ungleichsten der Welt. Wir garantieren, dass der Kampf gegen die Ungleichheit unumkehrbar ist.»

Der Mensalão-Skandal

Es gilt als der grösste öffentlich gewordene Korruptionsfall der brasilianischen Politik, und es traf die regierende Arbeiterpartei (PT) bis ins Mark: In den Jahren 2003 und 2004 betrieb der PT im Kongress einen systematischen Stimmenkauf. Dabei wurden Abgeordnete der Opposition für ihre Zustimmung zu bestimmten Gesetzesvorhaben bezahlt. Das Betrugsschema wurde unter dem Begriff «Mensalão» bekannt, was so viel wie fettes Monatsgehalt heisst.

In das System waren neben Präsident Luiz Inácio Lula da Silvas Kabinettschef José Dirceu auch führende FunktionärInnen des PT, die Brasilianische Arbeiterpartei (PTB), die Fortschrittspartei (PP), die damalige Liberale Partei (PL) sowie UnternehmerInnen und BankerInnen verstrickt. Letztere halfen dabei, das Bestechungsgeld aufzutreiben und dessen Herkunft zu verschleiern.

Im Oktober 2012 hatte der Oberste Gerichtshof 25 Beteiligte zu Haftstrafen zwischen zwei und vierzig Jahren verurteilt. Nun hat dasselbe Gericht nach einer Neuzusammensetzung mit 6 zu 5 Stimmen den Einsprüchen von zwölf Angeklagten stattgegeben. Ihre Fälle werden neu aufgerollt, und sie können auf eine Milderung ihrer Strafen hoffen, etwa eine Verbüssung im offenen Vollzug. In der brasilianischen Öffentlichkeit hat diese Entscheidung für Unverständnis gesorgt.

Philipp Lichterbeck

 

Tote und Gebärende im Wartesaal

Die Massenproteste im Juni in verschiedenen brasilianischen Städten richteten sich auch gegen das schlechte Gesundheitssystem, das von KritikerInnen als «Klassenmedizin» bezeichnet wird. Als Reaktion darauf rief die Regierung von Präsidentin Dilma Rousseff Anfang Juli das Programm «Mais Médicos» («Mehr Ärzte») ins Leben. Es sieht die Entsendung von 15 000 MedizinerInnen in entlegenere Gegenden wie auch in die Peripherien der Städte vor. Denn während es in den reichen Zentren des Landes genügend ÄrztInnen gibt, fehlen diese in armen Gegenden. An Geschichten von Kranken, die in Wartesälen gestorben sind, oder von Schwangeren, die dort geboren haben, weil sie nicht betreut wurden, fehlt es nicht.

Brasilien hat zurzeit 1,8 MedizinerInnen pro tausend EinwohnerInnen. Im Nachbarland Argentinien sind es rund 3, in der Schweiz fast 4. Die Gruppe der zusätzlichen ÄrztInnen soll sich aus BrasilianerInnen und ausländischen MedizinerInnen zusammensetzen.

Der letzte Punkt stösst auf starken Widerstand von Ärzteverbänden und der Opposition, insbesondere weil sich unter den AusländerInnen 4000 KubanerInnen befinden, deren Gehalt direkt an die kubanische Regierung fliesst. Die Bevölkerung unterstützt die Initiative jedoch mit grosser Mehrheit – obwohl auch klar ist, dass es vielerorts nicht nur an ÄrztInnen mangelt, sondern auch an medizinischer Ausrüstung und Investitionen.

Nachtrag vom 10. Oktober 2013 : Ernste GegnerInnen 
für die Präsidentin

In einem Jahr findet in Brasilien die nächste Präsidentschaftswahl statt. Das ist noch eine Weile hin, doch inoffiziell scheint der Wahlkampf spätestens seit Ende Juni eröffnet, als bei landesweiten Demonstrationen Hunderttausende gegen die weit verbreitete Korruption und die schlechte Infrastruktur im Bildungswesen, beim öffentlichen Verkehr und bei der medizinischen Versorgung protestierten.

Anfang dieser Woche fanden nun in Rio de Janeiro, Sao Paulo und in Belem am Amazonas die grössten Demonstrationen seit Juni statt. Dabei ging es auch um die Solidarität für jene LehrerInnen in Rio, die seit zwei Monaten für mehr Lohn streiken. In allen drei Städten kidnappte eine kleine Gruppe Maskierter jedoch die zuvor friedlichen Proteste, zerstörte öffentliche Einrichtungen, Banken und Autos und provozierte gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die Forderungen der Protestierenden gingen in den Gewaltbildern unter.

Vom wachsenden Unmut auf der Strasse könnte eine neue politische Konstellation im linken Spektrum profitieren: So hat Marina Silva, ehemalige Umweltministerin und frühere Senatorin der Grünen Partei, als deren Präsidentschaftskandidatin sie 2010 rund zwanzig Millionen von 136 Millionen Stimmen erhielt, sich mit der etablierten Sozialistischen Partei Brasiliens zusammengetan. Zuvor war ihrer neuen Bewegung Rede Sustentabilidade die Zulassung als Partei verweigert worden. Diese Koalition könnte der amtierenden Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei den noch vor kurzem sicher scheinenden Wahlsieg streitig machen.

Sonja Wenger