Japan: Die Jungen sind an allem schuld

Nr. 42 –

In Japan schwelt ein Generationenkonflikt. Die Alten werfen den Jungen Eskapismus und mangelnde Leistungsbereitschaft vor. Doch die Wahrheit ist komplexer.

Risikoscheu, introvertiert und moralisch verdorben? Die japanischen Medien zeichnen ein verzerrtes Bild der Jugend. Foto: Alda Burkhardt

In kaum einem anderen Industrieland haben die Alten so viel Einfluss wie in Japan. Sie sind zahlenstark – Japan ist bevölkerungsstatistisch eine der ältesten Gesellschaften der Welt –, und sie sitzen an praktisch allen Schalthebeln der Macht, haben Geld und entscheiden die Wahlen.

Trotzdem fühlen sich die Alten nicht wohl in ihrem Inselreich (vgl. «Verkrustete Strukturen» im Anschluss an diesen Text). Lieber träumen sie von den goldenen siebziger und achtziger Jahren und klagen über den wirtschaftlichen Niedergang und den moralischen Zerfall. Und sie glauben auch zu wissen, wer Schuld daran hat: die arbeitsunwilligen, konsumfaulen und introvertierten Jungen, deren weltabgewandte und risikoscheue Haltung in Zeiten der Globalisierung Gift für die wirtschaftliche Expansion sei.

Ein neuer, böser Typus

Dies ist ein höchst verzerrtes Bild der jüngeren Generation. An seiner Konstruktion sind die Medien zumindest mitschuldig, denn sie verhelfen jugendlichen Exzessen zu medialer Aufmerksamkeit, was schnell zu Verallgemeinerungen führt. So werden extreme Formen des sozialen Rückzugs (Hikikomori) oder der Arbeitsverweigerung (durch sogenannte NEET – Not in Education, Employment or Training) sensationslüstern aufbereitet und als emblematisch für den introvertierten und faulen Nachwuchs dargestellt. Am liebsten stürzen sich die Medien jedoch auf die spektakulärsten Fälle, auf Taten wie etwa die von Tomohiro Kato, der 2008 in Tokio wahllos sieben Menschen tötete. Kato war ein erfolgloser, introvertierter junger Mann, Sohn eines Topmanagers und ohne FreundInnen, der sich seiner selbst schämte und sich unverstanden fühlte. Als er diesen Zustand nicht länger ertrug, rastete er aus – «Kireru» nennen das die JapanerInnen.

Durch die wochenlange mediale Aufmerksamkeit, die solche Ereignisse erhalten, wird das bisherige Bild der Jungen um einen zusätzlichen Typus erweitert: den des gewalttätigen, hysterischen und moralisch verdorbenen Menschen, der jederzeit und überall zuschlagen kann. Dieser Typus scheint für viele JapanerInnen die Übel der heutigen Zeit am besten zu verdeutlichen – die mediale Panikmache verfehlt ihre Wirkung nicht.

Die Angst um die Kinder und vor ihnen erfasst vor allem die Eltern. Dies kann mitunter zu grotesken Reaktionen führen, etwa wenn sich Mütter die Überwachungstechnik zunutze machen, um ihren Kindern auf dem Schulweg virtuell zu folgen. Dafür kann zum Beispiel die elektronische Bahnkarte so aufgerüstet werden, dass sie bei der Entwertung ein Signal auf Mamas Handy sendet und ihr dadurch den Standort ihres Kindes verrät.

Chancen fehlen, nicht die Moral

Viele kämpfen seit Jahren gegen die mediale Verunglimpfung der Jungen: Hilfswerke, Experten, junge Intellektuelle und Wissenschaftlerinnen. «Dabei gilt es vorerst, die Sachverhalte richtigzustellen, etwa bei der Verbrecherstatistik», sagt Hiroyuki Nishino, Direktor der Hilfsorganisation Free Space Tamariba, die sich um Hikikomori kümmert. Tatsächlich ist die Kriminalität bei jungen Menschen in den letzten dreissig Jahren eher gefallen und verharrt im Moment auf tiefem Niveau.

Auch der 34-jährige Kulturkritiker und Publizist Tsunehiro Uno, ein Wortführer der jüngeren Generation, gerät in Rage, wenn er auf das Jugendbild in den Medien angesprochen wird. Vieles daran sei erdichtet und übertrieben, ein Ablenkungsmanöver von den wahren Problemen Japans. «Natürlich könnten wir Jungen weltoffener sein. Aber die Japaner waren schon immer eher introvertiert, das gilt für alle, ob alt oder jung», sagt Uno. «Und dass wir keine neuen Ideen hätten, wie oft behauptet wird, liegt mehr an den geringen Realisierungsmöglichkeiten und der noch wenig entwickelten Start-up-Kultur als an der Risikoaversion, die man uns nachsagt.» Wer Träume verwirklichen wolle, gehe ins Ausland.

Schützenhilfe finden Nishino und Uno bei etlichen WissenschaftlerInnen, etwa bei Yuki Honda, Sozialwissenschaftlerin und Professorin an der Universität Tokio, die in ihren Publikationen das Bild der arbeitsscheuen Jungen widerlegt. «Die NEET-Problematik hat mehr mit den schwierigen und instabilen Arbeitsverhältnissen als mit Arbeitsverweigerung zu tun», sagt sie. Sie erteilt den Jungen gute Noten, denn sie würden die härter werdenden Lebensbedingungen mit viel Stehvermögen und Geduld angehen und zu überwinden versuchen. Und ihre Arbeitsmoral sei trotz der steigenden Zahl prekärer Anstellungsbedingungen hoch, wie Untersuchungen immer wieder zeigten.

Im Wertewandel verloren

Dennoch stürzen immer mehr junge Menschen irgendwo auf dem Weg von Schule, Ausbildung und Beruf ab. Sie werden zu SchulverweigerInnen, Hikikomori oder nehmen sich, als letzten Ausweg, das Leben. Mit solchen Formen des Eskapismus befassen sich die beiden PsychiaterInnen und PublizistInnen Rika Kayama und Tamaki Saito. Die relativ schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen und die wachsende Armut seien das eine, sagt Kayama. Doch viele Junge würde eine tiefer greifende Orientierungslosigkeit, eine Sinnkrise plagen, die Kayama auch auf einen sehr langwierigen Wertewandel und -konflikt zurückführt.

Da sei etwa das Spannungsfeld zwischen Individualität und Gemeinschaft, sagt Kayama. Japan ist immer noch eine starre Beziehungsgesellschaft, die Einordnung in ein Kollektiv wird schon früh geübt, und Teamwork ist im Berufsleben von zentraler Bedeutung. Gleichzeitig ist die moderne Leistungsgesellschaft zunehmend auf die individuelle Leistungsfähigkeit jedes Einzelnen angewiesen. Dem wurde in den letzten fünfzehn Jahren zwar durch Schulreformen Rechnung getragen, die Individualismus und Selbstentfaltung fördern sollen. Doch diese Entwicklung zu mehr Eigenständigkeit kollidiert immer wieder mit dem Geist des Kollektivismus. Zwei Beispiele sollen dies illustrieren. Beide zählen zu den Hauptgründen für Hikikomori.

Mobbing und Margendruck

Ijime (Mobbing) unter SchülerInnen ist in Japan ein immer wieder heftig diskutiertes gesellschaftliches Problem. Die Opfer sind oft Aussenseiterinnen, Schwächere oder Individualisten. Der Psychiater Saito erkennt hier einen Mechanismus, der den Betroffenen die Eigenständigkeit versagt und sie zur Anpassung und Eingliederung in den Klassenverband zwingen soll. «Dies wird von der Gesellschaft – trotz aller Kritik und Debatten – geduldet», sagt Saito. Die Sympathie für die Opfer sei gering, obwohl Ijime oft das Gegenteil von Eingliederung bewirkt und in Schulverweigerung oder gar Hikikomori endet.

Auch auf ihrem späteren Werdegang sind die JapanerInnen dem Gruppendruck ausgesetzt. In vielen Firmen sind insbesondere die Festangestellten in ein Geflecht von Abhängigkeiten und Bindungen zu Vorgesetzten und KollegInnen eingespannt. Solche Seilschaften sind bei der Regelung der Arbeitsbedingungen wichtiger als Arbeitsrecht, individuelle Verträge oder Stellenbeschreibungen. Eine zugeteilte Arbeit auszuschlagen, ist bei dieser Konstellation schwierig. Genau auf diese Zurückhaltung spekulieren nun aber die Firmen, die in letzter Zeit ihre regulären Belegschaften wegen Margendruck reduziert haben. Die Verbliebenen bekommen dies durch steigende Arbeitsbelastung (oft ohne Kompensation) zu spüren. Die schwärzesten Schafe unter diesen Unternehmen haben das Etikett «Black Kigyo» (schwarze Firma) verpasst bekommen.

Für die Jungen, die von beruflicher Selbstverwirklichung träumen, sind solche Bedingungen besonders hart. Doch eine rasche Kündigung ist verpönt – dies wäre Verrat an der Gruppe und am eigenen Verantwortungsgefühl. Viele quittieren den Dienst erst, wenn sie bereits erschöpft, krank und desillusioniert sind. Sie schaffen dann den Wiedereinstieg nicht mehr und gleiten in die soziale Isolation ab.

Japan kann aber in mancher Hinsicht stolz auf seinen Nachwuchs sein. Trotz des Versagens von Politik und Eliten, den Werte- und Strukturwandel zu beschleunigen, geben sich die meisten Jungen geduldig und kooperativ. Eigentlich würde man den Jungen wünschen, dass sie ihren Unmut noch stärker zeigen und sich auflehnen, statt ihn in sich hineinzufressen.

Kaum Mitleid für sozial Schwache

So würde eine sanftere Form des Kollektivismus Japans Gesellschaft sicher guttun. Dass sich hier kaum etwas bewegt, «ist typisch für uns Japaner», sagt Yuki Honda. «Wir sind dazu erzogen worden, die Ursachen für Fehler oder Misserfolge stets bei uns selbst zu suchen, statt sie in grössere Zusammenhänge zu stellen oder gar andere zu beschuldigen.» Einen Grund dafür sieht sie in der Bildungspolitik. Der Staat habe es geschafft, nach dem Zweiten Weltkrieg die Kosten fürs öffentliche Bildungswesen tief zu halten und die Verantwortung für Bildungserfolg und Berufsausbildung auf das Individuum, seine Familie und die Firma abzuwälzen. Bezeichnenderweise erfahren in Japan sozial Schwache kaum je Mitleid.

Tamaki Saito andererseits erkennt in der starken sozialen Kontrolle ein weiteres Element, das den Protestwillen abwürgt. Er führt dies auch auf die dominante Rolle der Mutter im durchschnittlichen japanischen Familienleben zurück – der Vater ist üblicherweise kaum präsent. Mütter würden weniger durch Strafen als durch Einmischung und Kontrolle erziehen. Diese beiden Elemente durchdringen laut Saito auch die öffentliche Sphäre, etwa im für Japan typischen Grossraumbüro, das die gegenseitige Überwachung fördert.

Verkrustete Strukturen

Selten hat in Japans Geschichte ein Ereignis die Generationen so entzweit wie das Platzen der Spekulationsblase 1991. Plötzlich schienen der Kollektivismus, die traditionelle Geschlechterrollenverteilung und die Anstellung auf Lebenszeit nicht mehr richtig zu funktionieren. Doch die ältere Generation hat Mühe, sich von den einst bewährten Institutionen zu lösen, auch deshalb, weil sie immer noch von den auf sie zugeschnittenen Strukturen profitiert.

Bei den Jüngeren jedoch, die nach 1991 ins Arbeitsleben eintraten, führte das veränderte wirtschaftliche Umfeld zu einer Pluralisierung der Lebens- und Arbeitsformen. Viele der alten Institutionen verlieren für sie langsam an Bedeutung und Identifikationspotenzial.

Die Strukturreformen hinken allerdings dieser Entwicklung hinterher, etwa bei den sozialen Sicherungssystemen. Auch deshalb blickt die jüngere Generation einer unsicheren Zukunft entgegen.