Rumänien: Der letzte Akt eines Kulturkampfs

Nr. 42 –

Ein Subventionsstopp bringt das Ende des Bergbaus in Rumäniens «Ruhrpott». Die SiegerInnen der Transition feiern die Modernisierung. Doch viele im Schiltal verlieren ihre Lebenswelt.

«Warum ist hier weit und breit keine Alternative in Sicht?» Dorel Iepure arbeitet seit 1988 im Bergbau.

Dorel Iepure schreitet wie getrieben durch die Schutzgalerie. Sein rundes Gesicht ist mit einer Mischung aus Kohlenstaub und Schweiss bedeckt; ab und an kommen Kollegen von oben herab, und das starke Licht ihrer Helmlampen blendet Iepures grosse braune Augen. Der 45-Jährige hat mehr als die Hälfte seines Lebens im Untertagebergbau gearbeitet. Er hat 1988 angefangen, damit gehört er zu den letzten Generationen rumänischer Bergleute, um die der Staat geworben hatte. «Damals hatten wir noch unseren Stolz», spricht er im langsamen, schaukelnden Dialekt der SiebenbürgerInnen.

Die erste Schicht geht zu Ende, Iepure tritt mit seinen grauen Gummistiefeln auf die langen Holzbretter, vorbei an Grubenwagen, immer nach oben. Dort, wo die Gleise aufhören, mündet die enge Galerie in einen grösseren Raum. Frische Luft strömt herein, die Temperatur wird erträglich, und ein Ingenieur versichert, dass die explosive Gaskonzentration nun endlich unter den zulässigen Werten liege. Nach einem Glockenton wird der Aufzug hochgefahren.

Sparen um jeden Preis

Fünf Minuten später fährt der Aufzug wieder nach unten, öffnet seine Türen – und die ersten Kumpel der nächsten Schicht steigen aus. «Die Maschine» nennen sie den Aufzug, er wurde 1940 von der Firma Siemens gebaut. «Sie hat einiges erlebt, die Alte», erzählt Betriebsleiter Constantin Jujan mit einem breiten Lächeln. «Mit dem Aufzug sind die Kumpel schon im Krieg unter Tage gefahren, erst für, dann gegen die Deutschen, dann für Stalin, dann für Ceausescu und schliesslich für die freie Marktwirtschaft.»

Eine nächste Epoche wird der Aufzug nicht mehr erleben: Spätestens 2015 ist hier Schluss. Damit endet auch die Karriere der in Petrila gelegenen tiefsten Mine Rumäniens und die der Steinkohle im Schiltal. Nur noch rund hundertmal muss Dorel Iepure tausend Meter unter Tage fahren, um sechs Stunden lang mit Spitzhacke und Presslufthammer die Innereien der Erde auszunehmen und die groben schwarzen Brocken aufs Laufband zu laden. Dann darf er in Rente gehen, und er freut sich schon darauf. Viele seiner rund 3000 Kumpel, die hier und in den anderen Städten der Gegend arbeiten, haben weniger Glück. Ihnen wird oder wurde bereits gekündigt. Auch «Herr Direktor Jujan», der wie Iepure als Veteran des Schiltals gilt, kann ihnen diesmal nicht mehr helfen.

Die endgültige Entscheidung wurde vor drei Jahren in Bukarest gefällt. Damals traf sich der wirtschaftsliberale Staatspräsident Traian Basescu mit dem damaligen Premier Emil Boc und VertreterInnen der EU-Kommission und des Internationalen Währungsfonds (IWF). Es galt, drastische Sparmassnahmen durchzusetzen und die letzten staatlichen Unternehmen zu privatisieren oder zu schliessen, damit der Haushalt trotz Wirtschaftskrise wieder ausgeglichen werden würde. Es folgte ein Programm, das bis heute ein Zankapfel in der rumänischen Politik bleibt. Sämtliche Löhne und Gehälter im öffentlichen Sektor wurden um 25 Prozent gekürzt, Zehntausende Stellen und viele Sozialleistungen gestrichen, Schulen und Krankenhäuser geschlossen. Ein Plan für die Schliessung «nicht rentabler Staatsbetriebe» wurde erstellt.

Daraufhin protestierten Tausende BürgerInnen wochenlang auf dem Bukarester Universitätsplatz gegen die Sparagenda. Die wirtschaftsliberale Regierung verlor ihre Unterstützung im Parlament, und die Wahlen im Dezember letzten Jahres brachten dem linken Bündnis Uniunea Social Liberala (USL) um Ministerpräsident Victor Ponta einen Erdrutschsieg. Doch bisher ist die versprochene Kehrtwende ausgeblieben. «Wir sind von der neuen Regierung tief enttäuscht», sagt Bogdan Hossu, Geschäftsführer des Gewerkschaftsverbands Alfa, der fast eine Million Beschäftigte aus allen Wirtschaftsbranchen vertritt. «Natürlich kann man nicht immer über seine Verhältnisse leben, aber wenn wir sämtliche Industrieanlagen als Altmetall zum Recyclinghof fahren und zur Subsistenzlandwirtschaft zurückkehren, haben wir auch nichts erreicht.»

Einige Produktionshallen der Mine in Petrila wurden schon abgerissen. Betriebsleiter Jujan versucht, so viel wie möglich zu retten: Er hat ArchitekturstudentInnen eingeladen, die an einem Plan für den Erhalt des Bergbauerbes arbeiten. «Die Geschichte des Schiltals nach der Wende ist typisch für das langsame Sterben der rumänischen Industrie: Erst wurde jahrelang nichts investiert, bis die Betriebe ausgeblutet waren. Dann wundert man sich, dass wir nicht wettbewerbsfähig sind, und empfiehlt die Schliessung», sagt Domokos Laszlo verbittert. Er leitet seit dem Frühjahr die Gewerkschaft Huila, zu Deutsch «Steinkohle», der die meisten Kumpel aus dem Tal angehören.

Am Ende 37 Franken im Monat

Anders als ihre deutschen KollegInnen aus dem Ruhrpott, dem das Schiltal in vielerlei Hinsicht ähnelt, können die rumänischen Bergleute mit keiner weichen Landung rechnen. Zehntausende sind von den Schliessungen auch indirekt betroffen: als Familienmitglieder der entlassenen MitarbeiterInnen oder als Erwerbstätige bei anderen Unternehmen aus den sieben Geisterstädten, die sich entlang des Schils aneinanderreihen. Sie alle werden im besten Fall zwei Jahre lang Arbeitslosengeld bekommen. Das sind im Monat umgerechnet höchstens 250 Franken, eine Summe, die im heutigen Rumänien weder für Essen noch für Heizung reicht.

Danach erhält man nur noch das Mindesteinkommen, das der Staat den Langzeitarbeitslosen und den Bitterarmen garantiert: 37 Franken im Monat. Doch selbst dieses wird neuerdings an Bedingungen geknüpft. Laut einem Gesetz, das zusammen mit den Sparmassnahmen verabschiedet wurde, muss für diese Summe gemeinnützige Arbeit geleistet werden. So sollen die Arbeitslosen «aktiviert» werden. «Das ist ja praktisch», stellt Gewerkschafter Bogdan Hossu ironisch fest. «Zum einen sinkt die Zahl der angemeldeten Arbeitslosen deutlich, weil niemand den ganzen Tag für 37 Franken im Monat arbeiten will, zum anderen ist man das soziale Problem los, weil alle irgendwann das Land verlassen und ihr Glück anderswo in Europa suchen, etwa in Deutschland.»

Gebrochener Stolz

Dorel Iepure kann es nachvollziehen, wenn die Regierung immer wieder sagt, dass sie keine Verlustgeschäfte mehr machen will. Seit dem EU-Beitritt Rumäniens 2007 gilt ein grundsätzlicher Subventionsstopp, Ausnahmen wie im Schiltal waren nur temporär und nach langwierigen Verhandlungen möglich. «Aber warum wird hier seit Jahren nichts investiert, warum ist hier weit und breit keine Alternative in Sicht?», fragt er. Keiner seiner Kollegen kann es ihm genau erklären. Iepure wird nachdenklich, schweigt eine Weile und zieht an seiner Zigarette. «Unsere Beziehung zu den Bukarestern ist seit Jahren vergiftet», sagt der Mann resigniert.

Es gibt Sachen, über die man im Schiltal nicht gern redet: den gebrochenen Stolz der Bergleute etwa oder den langjährigen Kulturkampf der liberalen, «westlichen» Bukarester Eliten gegen die «rückständigen Barbaren» aus den Gruben. «In den letzten 25 Jahren haben die rechtsliberalen rumänischen Intellektuellen und die Hauptstadtmedien sich selbst und die Mittelschicht aus den Grossstädten als die Kraft präsentiert, die die Modernisierung und Europäisierung Rumäniens vorantreibt», erläutert der linke Publizist und Blogger Costi Rogozanu. «Dagegen symbolisierten die Bergleute und überhaupt das alte Proletariat aus staatssozialistischen Zeiten die unzivilisierte Vergangenheit, für die man sich im Westen schämt, die man schnellstmöglich loswerden muss, wenn man mit den Westeuropäern auf Augenhöhe reden will.» Im Schiltal haben die Bergarbeiter diese Stereotype nach und nach verinnerlicht: «Es ist letztendlich das Denken der Sieger der Transition», stellt Publizist Rogozanu fest.

Seit den neunziger Jahren wurden die Bergleute für viele BefürworterInnen einer raschen Modernisierung Rumäniens und einer Integration in die Europäische Union zu einem Feindbild und zu einem Symbol der gehassten staatssozialistischen Vergangenheit (vgl. «Vom Glück in der Moderne»). Kulturell und symbolisch ist die Schliessung der Minen der letzte Akt eines Kulturkampfs, der nach 23 Jahren endgültig vom liberalen, modernen und proeuropäischen Lager gewonnen wurde – um den Preis des Abbaus des Sozialstaats und der Zerstörung einer Lebenswelt.

Das Schiltal : Vom Glück in der Moderne

Von der rumänischen Hauptstadt Bukarest fährt der Zug zuerst nach Westen, dann nach Norden, über die wilde Berglandschaft der Karpaten. Der Schilfluss, auf Rumänisch Jiu, bildet einen malerischen Engpass. Rund 300 Kilometer von der Hauptstadt entfernt beginnt das Reich der Steinkohle. Hier verlief einst die Grenze Österreich-Ungarns. Wo der Zug den Balkan hinter sich lässt, fängt Siebenbürgen und damit Mitteleuropa an.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Gebiet Rumänien angegliedert, ein Glück für das kleine Balkanland, das so seit 1919 nicht nur über ein viel grösseres Gebiet, sondern vor allem über bedeutende Bodenschätze verfügt. Schon zu kaiserlich-königlichen Zeiten wurden Gold und Silber im Apuseni-Gebirge, Kupfer und Zink in den Westkarpaten und Steinkohle im Schiltal abgebaut. Der rumänische Staat übernahm die Kontrolle über diese Ressourcen und investierte nach Möglichkeit in die Modernisierung der Technik. Doch das Geld war knapp: Ähnlich wie der Siemens-Aufzug in Petrila (vgl. Haupttext) sind viele Anlagen uralt und teils marode.

Nach dem Zweiten Weltkrieg warb das industriebesessene staatssozialistische Regime dann jahrelang in ganz Rumänien neue Arbeitskräfte für den Bergbau an, die stalinistische Propaganda stilisierte die Steinkohle zu einer Essenz des Fortschritts. Zehntausende DorfbewohnerInnen verliessen die Landwirtschaft und kamen ins Schiltal, um ihr Glück in einem moderneren Leben zu suchen. Am Anfang ging für viele die Rechnung auf: Der Staat bot attraktive Löhne und liess in Städten wie Petrosani oder Lupeni zahlreiche Wohnungen bauen.

Dann kam die Wende. Die Existenz des Bergbaus und der alte Sozialvertrag waren plötzlich akut bedroht. In den neunziger Jahren machten sich die Beschäftigten der Bergwerke mehrmals auf den Weg nach Bukarest, um Reformen und Restrukturierungen in der Industrie zu verhindern, aber auch, um Proteste der demokratischen Opposition zu unterdrücken. Die Gewaltbilder von Bergleuten, die StudentInnen zusammenschlagen, sorgten international für Empörung.