Durch den Monat mit Klaus Birnstiel (1): «Wann hatten Sie das letzte Mal Sex?»

Nr. 45 –

Klaus Birnstiel arbeitet als Assistent am Deutschen Seminar der Universität Basel. Er leidet an einer Muskelerkrankung, sitzt im Rollstuhl und hängt an einer Beatmungsmaschine. Und er fordert sexuelle Freiheitsrechte für Behinderte.

Klaus Birnstiel: «Sex mit mir ist auf alle Fälle experimentell. Missionarsstellung ist nicht im Angebot. Über alles andere muss man verhandeln.»

WOZ: Herr Birnstiel, wann hatten Sie das letzte Mal Sex?
Klaus Birnstiel: Vor drei Wochen. Mir ist eine junge Schweizerin begegnet. Sie kam aus dem absoluten Nichts – und in dieses absolute Nichts ist sie sehr schnell wieder entschwunden. Es war dennoch schön. Jeder, der mich näher kennt, weiss: Das widerfährt mir nicht jede Woche. Ich kann es immer noch an zwei Händen abzählen. Sex mit mir ist auf alle Fälle experimentell. Missionarsstellung ist nicht im Angebot. Über alles andere muss man verhandeln.

Und wie geht das?
Ich muss den Frauen, die sich auf mich einlassen, ein paar Dinge erklären. Man sollte sich im Eifer des Gefechts nicht in den Beatmungsschläuchen verfangen. Das klingt nach Slapstick, ist aber ernst gemeint. Die Sprache der Liebe ist ja meistens eine stumme Sprache. Als Teenager beschäftigte mich das obsessiv. Wenn ich Freunde fragte: Und, was ist dann passiert?, sagten sie: Dann hab ich sie halt geküsst, dann hab ich sie angefasst, und dann sind wir ins Bett gestiegen.

Während man sich liebt, redet man in der Regel nicht. Man tut es einfach. Für mich war es so und wird es immer so sein, dass ich genau in diesen Momenten vieles in Sprache umsetzen muss, das ist nicht ganz einfach und kann ins Auge gehen. Es ist für alle Beteiligten schwierig. Die letzte Frau, mit der ich zusammen war, sagte, ich solle doch mehr Initiative zeigen. Ich habe versucht, es mit Worten zu tun. Etwas anderes ist mir kaum möglich. Na ja, auch als Behinderter darf man schüchtern sein.

Wann haben Sie sich das erste Mal verliebt?
Da war ich vierzehn oder fünfzehn. Es ist natürlich nichts passiert. Mein Gott, ich hab damals daraus kein Drama gemacht. Ich sagte mir, diesmal hat es nicht geklappt, und dachte, dann klappt es halt das nächste Mal. Als Teenager wollte oder konnte ich nicht klarsehen, was in dieser Hinsicht mit mir los war. Später beschäftigten mich diese Liebesgeschichten stärker. Wie wahrscheinlich alle habe ich viele Tränen vergossen. Schliesslich wurde mir klar, dass meine Behinderung mit meiner Existenz kollidiert und zum Problem wird.

Sie haben mir erzählt, dass Sie gleich nach Ihrem Auszug aus dem Elternhaus eine Begegnung mit einer Frau organisierten.
Ich war 25, als ich den grossen Schritt wagte und mir eine Wohnung suchte. Dazu stellte ich mir ein Assistententeam von acht Leuten zusammen, die sich im Alltag um mich kümmern. Und ich wollte die körperliche Liebe endlich kennenlernen. Diesen Gedanken und alle möglichen Fantasien trug ich schon jahrelang mit mir herum. Als Zwanzigjähriger habe ich mich nicht als jemand gesehen, der die Dienste von Prostituierten in Anspruch nehmen wird. Als junger Mensch dachte ich mir oft etwas eitel: Mit meiner Behinderung bin ich so was von besonders, das wird schon klappen.

Nun hing ich also nervös am Telefonapparat und sprach mit einem sehr professionellen Menschen, der nicht überrascht schien. Ich war bestimmt nicht der erste behinderte Mann, der dort anrief. Ehe die junge Frau zu mir nach Hause kam, hatte ich eine meiner Assistentinnen eingeweiht und geschaut, dass Champagner im Kühlschrank war.

Können Sie sich noch an den Namen der Frau erinnern?
Sie nannte sich Alina und nahm mich gut auf. Ich war sehr nervös, sie beruhigte mich dann. Ich hatte das Gefühl, nichts Falsches zu tun. Natürlich kann man sagen, es war ihr Job, nett zu mir zu sein. Dennoch vermittelte sie mir ein gutes Gefühl. Ich sagte mir, die Umstände sind richtig, die Zeit ist gekommen, ich tue nichts Verbotenes. Es war wirklich schön.

Sie fordern sexuelle Freiheitsrechte für Behinderte. Was meinen Sie damit genau?
Ich habe irgendwann begriffen, dass es so etwas wie sexuelle Mehrheiten und sexuelle Minderheiten gibt. Zu den Minderheiten zähle ich die Lesben und die Schwulen, alle anderen sexuellen Randgruppen und die Behinderten. Einige dieser Randgruppen haben recht erfolgreich für ihre sexuellen Freiheitsrechte gekämpft, das betrifft vor allem die Homosexuellen. Ich behaupte nicht, dass dieser Kampf gegessen ist. Es gibt auch unschöne Gegenentwicklungen in der Schweiz, in Deutschland, in den USA.

Die Sexualität von Behinderten wird aber immer noch tabuisiert. Sie werden als asexuelle Wesen wahrgenommen. Behinderte Frauen betrifft das noch stärker als behinderte Männer. In Heimen, Krankenhäusern und auch von den meisten Eltern werden sie gut versorgt, aber als geschlechtslos wahrgenommen, irgendwie als neutral. Und weil sie neutral sind, wollen sie auch nichts, und man kann ihnen in dieser Hinsicht auch nichts geben. Diese Ansicht ist weitverbreitet.

Was sind nun die sexuellen Freiheitsrechte?
Dass auch Behinderte zunächst als sexuelle Wesen wahrgenommen und anerkannt werden. Erst dann können sie sich unbeschwerter auf diesen Weg machen, ihre Sexualität besser offen und frei leben und Erfüllung finden.

Der Literaturwissenschaftler Klaus Birnstiel (30) leidet unter einer nicht erblichen genetischen Anomalie, unter einer «unspezifischen muskulären Dystrophie». Von Kind an ist er auf einen Rollstuhl angewiesen, seit seinem zehnten Lebensjahr auf ein Beatmungsgerät. Birnstiels Rollstuhl wiegt 200 Kilo, er selbst 26 Kilo. All das hält ihn nicht davon ab, sich neue Räume zu erobern, geistige, emotionale und geografische.