Das Leben der anderen (3): «Krebs!», flüsterte sie laut über die Strasse

Nr. 49 –

Illustration: Marcel Bamert

Jetzt stehen die Schälchen wieder auf dem Fenstersims. Sie hat sie mit Brotkrümeln gefüllt, die Spatzen sitzen drauf und knabbern daran. Die Storen sind fast immer zu drei Vierteln heruntergelassen, dahinter flackert das Licht des Fernsehers. Manchmal lässt sie eine Store oben. Dann spricht sie vom Fenster aus mit den Vögeln. Oder sie blickt auf die Strasse und schimpft. Über die Knaben, die mit dem Rollbrett vor ihrem Haus herumkurven, über den Nachbarn, der einfach nur dumm ist, oder über die Ausländer, die es sich hier gut gehen lassen.

Manchmal höre ich, wie sie sich mit ihrem Freund streitet. Sie mache aus ihrem Exmann einen Heiligen, poltert er empört, und sie versucht mit träger, tiefer Stimme dagegenzuhalten.

Ab und zu – jedoch selten – verlässt sie die Wohnung. Dann trägt sie ihren Mantel mit Tigermuster, und ihre blondierten kurzen Haare stehen leicht verwirrt vom Kopf ab.

Es trennt uns nur die Strasse, und doch leben wir Welten voneinander entfernt. «Chumm schnäu!», ruft sie manchmal, wenn sie am Fenster steht und mich auf dem Heimweg ertappt, und winkt mich energisch zu sich. Da gibt es kein Entrinnen. Dann erzählt sie von ihren Ferien in Ägypten: «Schreckliches Hotel, wir hatten Flöhe im Bett.»

Oder dass sie auch gern Kinder gehabt hätte, ihr Exmann aber nicht. Und dann habe er sie verlassen für eine andere, mit der er nun eine Familie habe. Betrübt schüttelt sie den Kopf. Auch dass sie nur noch eine Brust hat, hat sie mir erzählt. «Krebs!», hat sie laut über die Strasse geflüstert und dazu den Ausschnitt ihres Pullovers nach unten gezogen, damit ich sehe, dass sie die Wahrheit erzählt. Nein, das Leben hat es nicht gut gemeint mit ihr. Doch manchmal wäre es mir lieber, der eine oder andere Schicksalsschlag würde ihr Geheimnis bleiben.