Das Leben der anderen (5): Diese Schreie durch die Decke

Nr. 49 –

Illustration: Marcel Bamert

Der Wecker klingelt jeweils um halb sechs Uhr morgens. Und niemand stellt ihn ab. Es ist nicht meiner, sondern der meiner Nachbarin von nebenan. Sie ist in den Ferien und hat wohl vergessen, ihn auszuschalten. Die Wände unseres Hauses sind sehr dünn.

Oben ist ein neuer Mieter eingezogen. Nachts verschiebt er Möbel, so klingt es zumindest. Auch nach einer Woche scheint er noch nach dem richtigen Platz für sie zu suchen. Er wird jede Nacht lauter. Manchmal knallt er einen Stuhl mit voller Wucht auf den Boden. Das Gebälk knackt bedrohlich. Schlaftrunken befürchte ich, dass er samt Stuhl und Schränken durch die Decke zu mir ins Zimmer kracht.

Ich stelle mir einen riesigen Mann vor. Mit wildem Haar und wildem Blick. Am meisten Angst machen mir jedoch die Schreie. Er schreit, als würde er zerquetscht zwischen seinen Möbeln. Nach drei weiteren schlaflosen Nächten wage ich mich am Morgen in den oberen Stock. Ich fürchte mich ein wenig, doch ich will ihn freundlich bitten, seine Wohnung doch tagsüber umzumöblieren. Ich klingle. Die Tür öffnet sich. Der Mann ist klein. Dick zwar, aber kleiner als ich. Seine Haare sind adrett geschnitten, der Blick freundlich. Er freue sich, die Nachbarin kennenzulernen, sagt er. Die Freude sei meinerseits, erwidere ich. Höflichkeit ist ein Reflex. Ich bringe meine Bitte vor. Er sagt, er wisse nicht genau, wovon ich rede. Aber ja, er werde sich Mühe geben, nachts leiser auf die Toilette zu gehen. Die Wände im Haus seien sehr dünn, das habe er bemerkt.

Am frühen Abend klingelt er an meiner Tür. Er bringt eine Flasche Wein als Entschuldigung. In der Nacht höre ich ihn wieder schreien.

Nach einem Monat zieht er aus. Die Vermieterin hat ihm gekündigt, wegen Klagen aus dem Haus. Die Nachbarin von nebenan ist mittlerweile aus den Ferien zurück. Ihr Wecker klingelt noch immer morgens um halb sechs. Doch nach dreimal Snoozen stellt sie ihn ab. Sonntags klingelt er gar nicht.