Verschwörungstheorien: Die Sehnsucht nach der geheimen Weltregierung

Nr. 49 –

Da steckt doch jemand dahinter: Für VerschwörungstheoretikerInnen gibt es keinen Zufall – wenn man das Spiel durchschaut.

Illustration: Marcel Bamert

Ich traf ihn in Solothurn an der Aare. Er sagte, er sei der Sohn von Bob Marley. «Meinst du das symbolisch?», fragte ich. Er antwortete nicht. Er sagte, die grossen Reggaemusiker – Bob Marley, Peter Tosh und andere – seien alle in Solothurn ermordet worden. Die Leichen habe man heimlich in Musikläden eingemauert. Solothurn war offenbar das Zentrum des Bösen.

Mir wurde klar: So etwas wie Symbolik gab es in seiner Welt nicht. Alles war wörtlich zu nehmen. Wörtlich und bedrohlich.

Einige Zeit später an einer Veranstaltung über Agrarpolitik. Ein Biobauer redet sich in Rage. Er prangert Missstände an: Pestizide, Bienensterben, die Macht der Agrokonzerne. Und kommt zum Schluss, schuld an allem sei die Rockefeller-Stiftung aus den USA. Sie sei es, die im Hintergrund die Fäden ziehe und die ganze Landwirtschaft in diese ungute Richtung treibe.

Am Anfang einer Verschwörungstheorie steht Unbehagen. Manchmal kommt es ganz woanders her. Hin und wieder hat es aber einen berechtigten Kern, zum Beispiel bei der Rockefeller-Stiftung: Sie fördert tatsächlich seit Jahrzehnten die Industrialisierung der Landwirtschaft (siehe WOZ Nr. 46/13 ), auch wenn sie weit davon entfernt ist, die Welt zu beherrschen. Der Biobauer war nicht unsympathisch. Er litt offensichtlich unter dieser Entwicklung, hatte lange nach einer Erklärung dafür gesucht und schliesslich eine gefunden, die ihm einleuchtete. Aus der berechtigten Kritik war eine Verschwörungstheorie geworden.

Hostien schänden, Brunnen vergiften

Die Vorstellung, dass eine kleine Elite heimlich die Welt beherrscht, ist alt. Schon manche FrühchristInnen munkelten, Jüdinnen und Juden seien «Teufelskinder». So richtig los ging es dann im Mittelalter: Es hiess, Juden schlachteten rituell Kinder, schändeten Hostien und vergifteten Brunnen, um die Pest zu verbreiten.

«Verschwörungstheorien sind nicht per se antisemitisch», sagt Hanno Loewy, Literaturwissenschaftler und Direktor des Jüdischen Museums im vorarlbergischen Hohenems. Er erinnert an die Hexenverfolgungen, die nicht antisemitisch gerechtfertigt wurden, sondern mit der Theorie, die «Hexen» seien im Bund mit dem Teufel. «Aber der Antisemitismus ist die Mutter der Verschwörungstheorien. Zu ihm gehört die Vorstellung, dass die Juden überall sind. Darum kann man Antisemitismus in fast jede Verschwörungstheorie einbauen.» Das antisemitische Stereotyp sei deswegen so wirksam, weil es eine plausible Erzählung anbiete: «Wer überall und nirgendwo zu Hause ist, ist ein ewiger Wanderer und lebt davon, seine Umwelt zu manipulieren.»

Dazu komme «das Urbedürfnis des christlichen Abendlands, mit dem jüdischen anderen fertigzuwerden, der die eigene Herkunft repräsentiert. Die Christen sehen das Judentum als ihre Vorgeschichte. Um wirklich zur Vorgeschichte und überwunden zu werden, müsste es verschwinden.»

Verschwörungstheorien seien darüber hinaus ideal, um Gewalt zu rechtfertigen und Konkurrenz zu verschleiern: «Wenn ich eine Hexe verbrenne, um ihre Seele zu retten, ist das viel ehrenhafter, als wenn ich es tue, weil ich ihr Haus haben will.»

Genaue Recherchen, kruder Blödsinn

Auch in der Moderne blieben JüdInnen die bevorzugte Zielscheibe von VerschwörungstheoretikerInnen. Neben Freimaurern, Jesuiten, dem Illuminatenorden – der in Wirklichkeit nur von 1776 bis 1785 existierte –, der US-Regierung oder allen zusammen. 1928 spottete Kurt Tucholsky über den Verfolgungswahn von Erich Ludendorff, dem deutschen General des Ersten Weltkriegs: «Jeden Freitag abend spielt ein Kapuziner / mit dem Papste Skat – dazu ein Feldrabbiner / auf dem Tische liegt ein Grand mit Vieren / dabei tun sie gegen Deutschland konspirieren …» Ohne die Mythen von der «jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung» hätte Hitler wohl nie solchen Zulauf erhalten.

Heute ist das Internet ein wunderbares Medium für Verschwörungstheorien. Gedruckte Texte müssen die Hürde eines Verlags oder einer Redaktion passieren, und wenn ein Buch in einem rechten oder esoterischen Verlag erscheint, ist das auf den ersten Blick sichtbar. Im Internet dagegen steht alles nebeneinander, von genauen Recherchen bis zum krudesten Blödsinn, und auch anhand des Designs lässt sich oft nicht beurteilen, wie seriös eine Website ist.

In der Occupy-Bewegung verschiedener Städte waren viele aktiv, die sich ihr Weltbild offensichtlich zusammengegoogelt hatten: In Reden und Texten tauchten massenhaft vereinfachende Theorien über das böse Geld und geheime Mächte auf. Auch VertreterInnen von Gruppen wie der Zeitgeist-Bewegung mischten mit: Sie vertreten die Theorie, die beiden Weltkriege und der Vietnamkrieg seien für den Profit der «internationalen Banker» geführt worden. Und wie viele andere sind sie überzeugt, dass die US-Regierung im September 2001 die Türme des World Trade Center selbst in die Luft sprengen liess oder zumindest vom Anschlag wusste. Die Symbolik vieler Plakate und Aktionen von Occupy Paradeplatz knüpfte an Motive der dreissiger Jahre an: die Bank als Krake, dicke Spekulanten mit triefenden Augen, Banker, die eine Politikermarionette manipulieren.

«Ich habe oft Patienten, die sich von einer geheimen Macht verfolgt fühlen», sagt der Zürcher Psychiater Daniel Strassberg. «Aber ich würde unterscheiden zwischen Verschwörungstheoretikern und paranoiden Psychotikern.» Wo liegen die Unterschiede? «Paranoide beziehen die Verschwörung auf sich. Sie sehen sich selbst als zentrale Opfer der Verschwörung. Deshalb gelingt es ihnen im Gegensatz zu Verschwörungstheoretikern selten, andere von ihrer Theorie zu überzeugen.» Das wird auch Bob Marleys Solothurner Sohn kaum gelungen sein.

Bedrohliche Unwägbarkeiten

Daneben gebe es aber viele Gemeinsamkeiten: «Beide konstruieren eine Welt, in der es keinen Zufall gibt. Obwohl es um Geheimnisse geht, ist die Verschwörungstheorie eigentlich die Umkehr des Geheimnisses: Die Welt ist vollkommen erklärbar. Der Zufall, die Unwägbarkeit, das Unplanbare ist für Verschwörungstheoretiker wie für Paranoide die grösste Bedrohung. Und beide glauben an eine extrem zentralisierte Welt. Die Vorstellung, dass jemand alles plant, wirkt wie eine Entlastung.»

Diese Vorstellung ist doch auch ziemlich bedrohlich … «Ja, aber offenbar nicht so bedrohlich wie der Zufall. Und die zentralisierte Macht gibt dem Verschwörungstheoretiker eine ungeheure Bedeutung: Er wird ja nicht kontrolliert. Er hat das Spiel durchschaut. Darum auch das grosse Sendungsbewusstsein. Man hofft: Wenn ich es öffentlich mache, wird sich etwas ändern.»

Ein weiteres Motiv ist die Grenze zwischen innen und aussen. Die Angst vor der Infiltration: Man meint, die Bedrohung komme von aussen, dabei ist sie längst da. Die Theorien über die Anschläge vom 11. September 2001 sind dafür ein typisches Beispiel. Oder auch der Antisemitismus: «Die Juden sind deshalb so bedrohlich, weil sie immer schon da sind», sagt Strassberg. Ein ähnliches Motiv sieht er in der Panik, von KommunistInnen unterwandert zu sein, am deutlichsten in den USA der fünfziger Jahre. «Der Nazi kam von aussen, hatte eine Hakenkreuzbinde am Arm, man konnte ihm entgegentreten wie in einem Cowboyfilm. Der Kommunist kam dagegen von innen. Es ist kein Zufall, dass zur gleichen Zeit in den Filmen die Aliens auftauchten: Auch sie tarnten sich manchmal als Menschen, um die Erde zu unterwandern.»

Nimmt die Bereitschaft zu, an Verschwörungen zu glauben? «Ich denke, sie grassieren schon länger», sagt Hanno Loewy. «Klar ist: Je weniger die Menschen verstehen, was abläuft, desto eher sind Verschwörungstheorien für sie ein Rettungsanker. Die Entscheidungsprozesse und Machtverhältnisse sind in den letzten Jahren ja nicht transparenter geworden.»

Übersteigerte Aufklärung

Auch Daniel Strassberg ist nicht sicher, ob Verschwörungstheorien populärer werden. «Was populärer wird, ist die Sehnsucht nach einer Steuerungsinstanz, gerade auch bei Linken. Das ist sozusagen die Kehrseite der Verschwörungstheorie: der Traum von einer starken Zentralität, von Planbarkeit. Zum Beispiel in der Erziehung: Wenn man es richtig macht, kommt es garantiert gut.» Der Traum vom richtigen Instrument, mit dem alles besser werde, sei eigentlich eine Übersteigerung der Aufklärung, ein sehr wissenschaftliches Weltbild. «Auch Verschwörungstheoretiker argumentieren immer mit der Wissenschaft.»

Ist das Verschwörungsdenken etwas spezifisch Westliches? Strassberg vermutet es. «Vielleicht lässt es sich mit dem Animismus in anderen Kulturen vergleichen: mit der Vorstellung, dass alles beseelt ist.» Doch ist das vergleichbar? Der Animismus hat ja kein Zentrum. «Nein. Die zentrale Steuerung ist wohl wirklich unser Ding.»