Maxim Gorki Theater : Alles kann weggekichert werden

Nr. 50 –

Das Berliner Maxim Gorki Theater behauptet unter der Leitung von Shermin Langhoff eine neue Normalität und guckt dabei auch nach Basel.

Es gibt auch in Berlin Jugendtheater. Aber Shermin Langhoff, die zusammen mit Jens Hillje das Berliner Maxim Gorki Theater leitet, ist Fan des Jungen Theaters Basel. Seit 1977 besteht das Theater, mehr und mehr gehen die Produktionen auch im Ausland auf Tour. Jugendliche Laien haben in Basel die Möglichkeit, in einem rundum von Profis gestalteten Setting Bühnenerfahrung zu sammeln.

Man kann das Luxus nennen. Shermin Langhoff findet: «Tolles Bühnenbild, tolle Geschichten und tolle Regie, das ist auch ein geschützter Raum, in dem Jugendliche auf der Suche nach ihrer Position in der Gesellschaft Schlüsselmomente erleben können.» Deshalb hat sie zum Auftakt der neuen Spielzeit auch ein Gastspiel aus Basel eingeladen: «Morning», ein geturnter und getanzter Entfremdungskrimi. Die schweizerische Diaspora war bei der Berlinpremiere so zahlreich vertreten, dass man sich die hochdeutsche Übertitelung hätte sparen können.

Geschichten von MigrantInnen

Generell wird im «Gorki» zunehmend übertitelt, meist allerdings in Englisch. Auch eine andere Geste richtete sich direkt ans Publikum: Schon vor den Premieren durfte es im Rahmen eines Herbstsalons zwei Wochen lang eintrittsfrei durch theatrale Installationen wandern und sich mit Themen und SchauspielerInnen vertraut machen. Die ägyptische Theatermacherin Laila Soliman schuf einen klaustrophoben Verhörkäfig zum Thema Geheimdienste. Im nächsten Raum war es anders spannend: Für jeweils fünfzehn Minuten gab es da die Möglichkeit zum direkten Gespräch mit den neuen Ensemblemitgliedern des Theaters.

Einige sind Shermin Langhoff schon aus ihrer Zeit im Berliner Ballhaus Naunynstrasse verbunden. Sie hat das kleine Theater von 2008 bis 2012 aus dem Off zum westeuropäischen Trendsetter im Bereich «postmigrantische» Themen geführt, indem sie die Geschichten und Hautfarben der Einwanderungsgesellschaft auf die Bühne brachte. Das hat Langhoff zu einer der derzeit meistbeachteten Frauen des deutschen Theaters gemacht. Die ihr daraufhin angetragene Leitung der Wiener Festwochen schlug sie im letzten Moment aus, um im «Gorki», dem kleinsten Berliner Stadttheater, eine neue Normalität zu statuieren: ihre. Shermin Langhoff ist als Neunjährige aus der Türkei nach Deutschland gekommen, und sie ist nicht die Einzige in ihrem Bekanntenkreis, die mehrere kulturelle Hintergründe hat. Auch für das vielversprechende SchauspielerInnenteam gilt das.

Von politischen Labels wie dem «postmigrantischen Theater» trennte sich Langhoff zum Antritt ihrer Intendanz jedoch bewusst. Auf den künstlerischen und gesellschaftspolitischen Erfolg der letzten Jahre möchte sie ohne Motto und Grundsatz aufbauen. «Trotzdem», meint sie, «ist das Wort ‹postmigrantisch› noch nicht ausgestorben. Es steht wie ‹poststrukturalistisch› oder ‹postdramatisch› dafür, dass es keine Gewissheiten, keine Herkünfte, keine Kategorien von richtig und falsch gibt, sondern eben nur genau das, was wir als Gesellschaft gerade verhandeln.»

Anders ist es mit der Sonne: «Die Sonne geht unter, vielleicht stirbt sie ja auch gerade aus», heisst es in der hitverdächtigen Uraufführung «Es sagt mir nichts, das sogenannte Draussen» von Sibylle Berg. Das chorische Postpubertätsstück in der Regie von Sebastian Nübling wurde im Zusammenhang mit der geplanten Kooperation in den Räumen des Jungen Theaters Basel geprobt, dem der Regisseur schon viele Jahre verbunden ist. Eine Kostprobe dieser Arbeit war in Berlin mit dem Krimi «Morning» des britischen Dramatikers Simon Stephens zu sehen. Stephens, der auch bekennender Fan des Jungen Theaters ist, hat ihm damit schon das dritte Werk geliefert. Anfang 2013 wurde es in Basel uraufgeführt.

Wer Pech hat oder Krebs, stirbt

Beide Inszenierungen von Sebastian Nübling lassen sich gut in den Reigen der ersten fünf Eröffnungsstücke einreihen, zu dem auch ein Multikulti-«Kirschgarten», eine Romanadaption von Olga Grjasnovas «Der Russe ist einer, der Birken liebt» und die Uraufführung von Marianna Salzmanns Schwarzmeer-Melodram «Schwimmen lernen» gehörte. Es geht um Lebenssituationen in einer angestrengt libertären Profitgesellschaft, die pluralistischer tut, als sie ist, in der überlebt, wer das mächtigere Argument oder den längeren Atem hat, und stirbt, wer Pech, Krebs oder Übergewicht hat. Während in Kulturwissenschaftsseminaren korrekte Diversität propagiert wird, geht es in der Realität um soziale Sicherheiten durch Kapital, Ehe, Blowjobs oder das Einräumen von Regalen. Das alles klingt normal, ist vor allem aber witzig.

Das neue Sibylle-Berg-Stück, das eigentlich Magersucht und einen perfiden Racheakt verhandelt, ist der unglaublich gut gespielte Pointenhit. Alles kann weggekichert werden. Psychologisierung war gestern. Musik, Tanz und hohes Tempo gehören zum Selbsterhaltungstrieb. Beim Publikumsgespräch nach dem Basler «Morning», in dem eine Pubertierende kurz mal actionreich ihren Freund umgebracht hatte, sprachen die Jugendlichen vor allem darüber, wie viel Spass ihnen die Sache gemacht habe. Ob das die von Langhoff erhofften Schlüsselmomente sind? Aber vielleicht sitzen die ja tiefer.

Liegt das Gemeinsame zwischen Basel und Berlin also im gut gemachten Unterhaltungstheater? Gegen diesen Begriff hat Shermin Langhoff nichts. Unterhaltung ist für sie ein Anspruch. Das Interesse am Jungen Theater Basel entspringt aber ganz besonders der Suche nach den Themen der Generation ihrer Tochter. «Im Zuge der kulturellen Bildungshysterie verschwinden die kommunalen Gelder für die Basisbildung in den Stadtteilen zugunsten von immer wieder neu zu beantragender temporärer Projektarbeit.» Ein Austausch, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, birgt für Langhoff viele Perspektiven.

Darüber hinaus ist es auch die «liebevolle» Arbeitsweise von Sebastian Nübling, die für die «Gorki»-Intendantin zum Motiv der Zusammenarbeit mit KünstlerInnen geworden ist: «Keine Arschlöcher. Viel mehr Grundsätze haben wir nicht.»