Nordkorea: Tödlicher Tabubruch in Pjöngjang

Nr. 51 –

Das hat es in Nordkorea noch nie gegeben: Mit dem Todesurteil für den zweitwichtigsten Mann im Staat demontiert sich auch der Machthaber Kim Jong Un.

Die Hinrichtung des noch vor wenigen Wochen als Nummer zwei der nordkoreanischen Nomenklatur gefeierten Chang Song Thaek ist in mehrfacher Hinsicht innen- wie aussenpolitisch brisant. Einmalig in der Geschichte der herrschenden Partei der Arbeit Koreas sind zudem die von der staatlichen Nachrichtenagentur öffentlich präsentierte Begründung des Urteils, die nachfolgenden Beleidigungen («Abschaum» sei er gewesen, «schlimmer als ein Hund») sowie die Rasanz, mit der die Exekution des 67-jährigen Politkaders vollstreckt wurde.

Die Demokratische Volksrepublik Korea ist nach dem Fall der Berliner Mauer und der Implosion der Sowjetunion schon mehrfach totgesagt worden. Doch das Regime überlebte – auch weil das Herrschaftsgefüge und die staatlichen Machtmechanismen jeweils fein austariert blieben. Es beruhte im Wesentlichen auf einer Art dreigliedrigem Führungssystem: Alte Kampfgefährten des Staatsgründers Kim Il Sung (1912–1994) aus dem antijapanischen Partisanenkampf waren ebenso integraler Bestandteil der Staats- und Parteiführung wie die in den ehemaligen Ostblockländern ausgebildeten Fachkräfte und die zu Hause gezogenen Kader, die die Kim-Il-Sung-Eliteuniversität in Pjöngjang absolviert hatten. Der charismatische Kim Il Sung, Grossvater des amtierenden Machthabers Kim Jong Un, hatte den Staat hin und wieder mit einem bäuerlichen Anwesen verglichen, in dem der Übergang von einer Generation zur nächsten wohlgeordnet und einvernehmlich bewerkstelligt werden müsse. Daran hielt sich sein Sohn Kim Jong Il (1941–2011), Vater von Kim Jong Un. Jong Il durchlief ab den frühen siebziger Jahren eine Laufbahn, die ihn mit unterschiedlichen Aufgaben in Partei und Staat vertraut machte, und legitimierte sich über seinen Vater, den er mit Zustimmung des gesamten dreigliedrigen Führungssystems beerbte.

Und dessen Sohn? Kim Jong Un – nach dem frühen Tod des Vaters ohne Vorbereitung ins Amt gekommen – hat mit der Exekution Changs nicht nur die nordkoreanische Dreifaltigkeit unterminiert, sondern ein Klima nagender Angst und Furcht geschaffen. Wen trifft es noch, wenn nicht einmal nahe Verwandte verschont werden? Jedenfalls hat Kim Jong Un in seiner knapp zweijährigen Regentschaft mindestens ein Drittel der Militärkommandeure sowie der Partei- und Regierungsbeamten abgesetzt und durch jüngere Kader ersetzt. Ob diese Machtbasis zur eigenen Herrschaftssicherung ausreicht, ist fraglich. Denn die alte Garde, die gemäss Kim Il Sung für die Kontinuität des Regimes bürgen und die mittleren und jüngeren Kader anleiten sollte, wurde durch das Abhalftern einiger ihrer Mitglieder nicht nur brüskiert – die öffentliche Beleidigung nach der Exekution Changs ist für die altgedienten Kader in der militärischen wie politischen Hierarchie ein Schock. Dass ein so ranghoher Kader wie Chang auf Weisung einer Person liquidiert wird, die nicht einmal halb so alt ist wie er, muss im etatistischen und neokonfuzianischen Nordkorea geradezu ungeheuerlich anmuten.

Ausserdem hat Kim Jong Un – ob bewusst oder unfreiwillig – auch das väterliche Image ramponiert. Denn der Exekutierte war nicht nur ein Schwager von Kim Jong Il. Er war dessen engster Berater, zuständig für Wirtschaftsfragen und die Gestaltung der Beziehungen zum grossen Nachbarn China. Die Überlebenden werden sich nunmehr fragen, wie es sein konnte, dass der «Geliebte Führer» Jong Il einem über Nacht zum Schurken mutierten Berater auf den Leim gegangen ist. Damit demontiert Kim Jong Un just jenen Mythos von der allwissenden, weisen und umsichtigen Führung – in der nordkoreanischen Propaganda «Kimilsungismus und Kimjongilismus» genannt –, der stets im Sinne der Staatsverklärung beschworen wurde.

Und so wächst im Süden der Halbinsel die Furcht vor heftigen Machtkämpfen und einer möglichen Implosion des Nordens. Auch die Volksrepublik China, auf deren Unterstützung Pjöngjang angewiesen ist, wird deutlicher als bisher reagieren und Position beziehen müssen. Schliesslich hatte Chang das chinesische Reformmodell und die schrittweise Öffnung des Landes favorisiert. Davon will Kim Jong Un offenbar nichts wissen, zumal frühere Änderungen, wie der Anfang Dezember 2009 über Nacht vollzogene Währungsschnitt, von Unruhen begleitet waren.

Da keiner der Nachbarstaaten – aus Furcht vor exorbitanten Kosten und schwer kontrollierbaren Flüchtlingsströmen – an einer Implosion des Regimes in Pjöngjang Interesse hat, bleibt Kim Jong Un eine Pokerkarte. Er kann nicht mit atomaren Drohungen seine Stärke demonstrieren, das würde die neue chinesische Führung nicht zulassen. Aber er kann mit dem Zusammenbruch drohen. Diese Drohung wird nicht nur in Beijing ernst genommen. Vor wenigen Wochen veröffentlichte die US-amerikanische Rand Corporation eine 312-seitige Studie, die unter anderem die Konsequenzen eines solchen Szenarios beschreibt. Haupttenor dieses Reports: Im Fall eines Zusammenbruchs von Nordkorea sei China gut beraten, rechtzeitig mit Südkorea und den USA Vorsorge zu treffen, um eine «humanitäre Katastrophe gigantischen Ausmasses» auf der koreanischen Halbinsel abzuwenden.

Rainer Werning ist Koautor des 2012 
erschienenen Buchs «Korea. Von der Kolonie 
zum geteilten Land» (Promedia Verlag, Wien).