Invalidenrenten: Anleitungen zur Kränkung

Nr. 3 –

Mit pseudowissenschaftlichen Untersuchungen will die IV möglichst viele Menschen mit psychischen Beschwerden aus der Versicherung kippen. Der neuste Schrei: Hirnstrommessungen.

«Paranoid und menschenverachtend»: Hirnstrommessungen als Mittel zur Diagnose von psychischen Störungen sind wissenschaftlich nicht anerkannt. Foto: Ulrich Zillmann

Die Meldung ging wie ein Lauffeuer durch die Medien: Anfang Januar machte die IV-Stelle Luzern bekannt, dass diverse KantonsbewohnerInnen, die aus psychischen Gründen Anspruch auf eine IV-Rente erheben, einer Hirnstrommessung unterzogen werden. Auch in den Kantonen Zürich und St. Gallen soll diese Methode schon angewandt worden sein.

Der Hintergrund dazu ist politisch: Mit der 6. IV-Revision, die seit einem Jahr in Kraft ist, setzte sich das Bundesamt für Sozialversicherungen zum Ziel, die Zahl der IV-Renten innerhalb von sechs Jahren um 12 500 Fälle zu reduzieren und pro Jahr 570 Millionen Franken einzusparen. Da der Anteil derer, die aus psychischen Gründen eine IV-Rente beziehen, seit dem Jahr 2000 zugenommen hat, soll vor allem in diesem Bereich gespart werden.

Dabei wird eine Bundesgerichtspraxis, die für neue Renten bereits seit der 5. IV-Revision gültig ist, nun auch für laufende Renten umgesetzt. Im Fokus stehen «Beschwerdebilder, die nach dem heutigen Stand der Medizin nicht objektivierbar sind und deren Diagnosen einzig auf subjektiven Aussagen der Patienten beruhen». Es soll überprüft werden, ob den bisherigen Rentenbeziehenden eine Erwerbstätigkeit zumutbar sei.

Vordergründig richtet sich der Sanierungsplan nach dem «übergeordneten Ziel der Eingliederung von Menschen mit einer Behinderung». In der Tat erschöpft er sich weitgehend darin, die angestrebten Rentenstreichungen und -kürzungen zu rechtfertigen. Grundlage dafür liefert ein Bundesgerichtsentscheid aus dem Jahr 2004, der davon ausgeht, dass nicht objektivierbare Beschwerden mit einer «zumutbaren Willensanstrengung» überwindbar seien.

Luzerner «Pioniergeist»

Die IV-Stelle Luzern spielt im Rahmen dieser Sparübung eine «Pionierrolle». Wie eifrig in der Innerschweiz nach Methoden gesucht wird, um IV-RentnerInnen der Simulation zu bezichtigen, illustriert ein Anlass, der im vergangenen November in der «Sozialversicherungshauptstadt» Luzern über die Bühne ging. Am Luzerner Forum für Sozialversicherungen und Soziale Sicherheit berichteten Fachleute über den «erstmaligen Einsatz in der Schweiz von innovativen IT-Diagnoseinstrumenten bei der Abklärung von psychischen Störungen in der IV».

Es referierten: Donald Locher, Direktor der IV-Stelle Luzern, der zuvor bei privaten Krankenversicherungen tätig war und nebenbei im Vorstand der Rosalischen Gesellschaft Luzern sitzt, deren Zweck unter anderem «in der Förderung des Sparsinns» liegt; Peter Balbi, leitender Arzt des Regionalärztlichen Diensts Zentralschweiz; und schliesslich Horst-Jörg Haupt, der die Hirnstrommessungen durchführt – ein Facharzt für Psychiatrie, der sich selbst als wissenschaftlichen «Querdenker» bezeichnet.

Nach Angaben von Peter Balbi hat der Regionalärztliche Dienst bislang dreizehn Personen einer Hirnstrommessung unterzogen. Bei wie vielen diese ausschlaggebend für den Rentenentscheid gewirkt hat, könne nicht beurteilt werden, da die Hirnstrommessung nicht das alleinige Kriterium sei.

«Es ist nicht unser Anspruch, mit der Hirnstrommessung psychische Störungen zu diagnostizieren. Was wir damit messen können, sind Funktionen wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit oder die Speicherkapazität», beteuert Peter Balbi gegenüber der WOZ. «Die Hirnstrommessung ist eines unter vielen psychiatrischen, neuropsychologischen und arbeitsmedizinischen Testverfahren, die zusammen ein möglichst objektives Bild zur Leistungsfähigkeit ergeben sollen.» Bei insgesamt sechzig einer umfassenden neuropsychiatrischen Begutachtung unterzogenen PatientInnen soll sich ergeben haben, dass «etwa sechzig Prozent übertrieben und vierzig Prozent untertrieben» haben.

Was nichts daran ändert, dass die Hirnstrommessung als Mittel zur Diagnose von psychischen Störungen wissenschaftlich nicht anerkannt ist. Selbst ein neurowissenschaftlich aufgeschlossener Psychiater wie Erich Seifritz von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUKZH) sagte unlängst im «Tages-Anzeiger», es sei «nicht möglich, allein damit eine Diagnose wie Schizophrenie oder Depression zu stellen oder die Arbeitsfähigkeit für die IV zu beurteilen».

Noch grundsätzlicher ist die Kritik von Daniel Hell. Der ehemalige ärztliche Direktor der PUKZH sieht in der Hirnstrommessung «ein Beispiel für den generellen Versuch heutzutage, das Leiden, das etwas Subjektives ist, zum Teil auch mit untauglichen Mitteln zu objektivieren». Hell, der sich seit Jahren kritisch über die einseitig neurowissenschaftlich geprägte Entwicklung der Psychiatrie äussert, leitet heute das Kompetenzzentrum Depression und Angst an der Privatklinik Hohenegg in Meilen. Für ihn ist die Zunahme psychisch bedingter IV-Fälle soziologisch erklärbar: «Noch in den fünfziger Jahren arbeiteten in der Schweiz 75 Prozent der Beschäftigten hauptsächlich körperlich. Logischerweise waren die Folgeschäden vor allem körperlicher Art. Heute arbeiten 75 Prozent der Beschäftigten vorwiegend mental. Die Belastungsstrukturen haben sich also vom Körperlichen ins Psychische verschoben – und damit auch von objektivierbaren zu weniger objektivierbaren Beschwerdebildern.»

Umso problematischer findet Hell das Ausklammern der psychosozialen Bedingungen und des Kulturwandels in der Arbeitswelt: «In den siebziger Jahren konnte ein Angestellter mit einer leichten Depression noch gut über Jahre hinweg arbeiten – weil er einen gesicherten Arbeitsplatz hatte, an dem er sich auf seine Routine und eine konstante Umgebung verlassen konnte. Heute aber, in einer Welt, in der man sich ständig neu anpassen muss, fallen solche Menschen aus dem System.»

Verfassungsrechtliche Fragen

David Husmann von der Rechtsberatung für Unfallopfer und Patienten vertritt regelmässig IV-BezügerInnen. Er begründet die Unrechtmässigkeit der Hirnstrommessung zu solchen Zwecken mit einem Bundesgerichtsentscheid: «Nach Ansicht einiger Fachleute können Schleudertraumaverletzungen mit der Magnetresonanztomografie nachgewiesen werden. Das Bundesgericht hat in diesem Zusammenhang klar festgehalten, dass einer solchen Methode erst Beweiswert zukommt, wenn ein Konsens der Wissenschaftlichkeit vorliegt.» Nun sei aber auch die Hirnstrommessung nicht anerkannt. «Die Ärzte praktizieren quasi in einem rechtsfreien Raum, sie können mehr oder weniger machen, was sie wollen.»

Husmann hat beim Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) eine Aufsichtsbeschwerde deponiert: «Bis heute ist die vom BSV in Aussicht gestellte Aufsichtsstelle, in der auch Rechtsvertreter von Versicherten vertreten sein müssten, nicht umgesetzt.» Problematisch sei auch, dass für die medizinischen Gutachten zuhanden der IV-Stellen bloss die meist privatwirtschaftlichen, tendenziell versicherungsfreundlichen medizinischen Abklärungsstellen (Medas) und kaum je Universitätskliniken beigezogen würden.

Husmanns Kollege Alex Beeler von der Rechtsberatungsstelle für Unfallopfer und Patienten in Luzern vertritt bereits einen ersten Klienten, der in Luzern zur Prüfung seiner psychischen Invalidität diverse Tests über sich ergehen lassen musste – und nun einen negativen Rentenbescheid erhalten hat. Beeler verweist auf ein Urteil des Bundesgerichts, nach dem die Verwendung von Lügendetektoren als Methode der Wahrheitsfindung unzulässig ist. «Dieses im Strafrecht ergangene Urteil», so Beeler, «trifft auch auf das IV-Verfahren und die von der IV verwendete Hirnscanmethode zu.» Er will deshalb mit dem Fall vor das Kantonsgericht.

Ein Akt der Entmenschlichung

Noch klarere Worte findet der Zürcher Anwalt Philip Stolkin, Spezialist für Sozialversicherungsrecht und Menschenrechte: «Die Hirnstrommessung entstammt dem geradezu paranoiden und menschenverachtenden Misstrauen der Sozialversicherungen, die sich nicht zu schade sind, die Menschen zu erniedrigen, um Leistungen zu sparen.» Es handle sich um einen pseudowissenschaftlichen Vorwand, um Menschen in psychischen Notlagen notwendige Leistungen vorzuenthalten. «Meines Erachtens verstossen die Hirnstrommessungen gegen das Recht auf Menschenwürde und Privatsphäre.»

Die Chance, dass folgenschwere Methoden wie die Hirnstrommessung zu solchen Zwecken in naher Zukunft gerichtlich verboten werden, schätzt Stolkin als gering ein: «Da der Grundrechtsschutz in der Schweiz nur schlecht ausgebildet ist, werden wir wohl bis nach Strassburg gehen müssen. Es wird daher viele Jahre dauern, bis ein Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte solche Praktiken überhaupt verbieten könnte.»

Eine weitere Kränkung

Bis dahin werden in der Schweiz jährlich mindestens 2000 IV-RentnerInnen aus der IV gekippt werden. Das zumindest ist die Zielvorgabe des Bundesamts für Sozialversicherungen. Nicht auszuschliessen, dass die Hirnstrommessung, wie der Zürcher SVP-Nationalrat Toni Bortoluzzi bereits in Erwägung zieht, bald schon gesamtschweizerisch praktiziert wird.

Für Menschen mit einem seelischen Leiden sind das keine guten Aussichten. Das Verfahren stellt nämlich nicht nur ihre Renten infrage – allein schon dessen Anwendung kann sich kontraproduktiv auf ihren Gesundheitszustand auswirken. «Eine nicht notwendige Hirnstrommessung kann eine weitere Kränkung in der Krankheitsgeschichte der Betroffenen bedeuten», sagt dazu Daniel Hell. «Der Patient befindet sich in einer schamvollen Situation, indem ihm misstraut wird und er zum blossen Objekt gemacht wird. Ich erlebe immer wieder, dass ein Patient nach einer solchen Abklärung noch bedrückter ist als vorher.»

Es ist zu befürchten, dass mit solchen «Sparübungen» der Schaden noch grösser wird. Das sind auch für die Sozialversicherungen keine guten Prognosen.

Hirnstrommessung

Bei der Hirnstrommessung werden Elektroden auf der Kopfhaut angebracht. Diese messen die elektrische Aktivität im Gehirn, die durch eine Sinneswahrnehmung oder eine kognitive Leistung beim Informationsaustausch zwischen Nerven entsteht.

Die dabei auftretenden Spannungsschwankungen zwischen den Elektroden werden in einer Kurve im Elektroenzephalogramm (EEG) abgebildet und als «ereigniskorrelierte Potenziale» interpretiert. Anhand der Positionen der Elektroden wird die gemessene Aktivität verschiedenen Hirnbereichen zugeordnet.