Porträt: Jesus, Marx und Daniel

Nr. 3 –

Daniel Gloor arbeitet als Dozent für Theologie in aller Welt, will aber niemanden bekehren. Seine Lehre des Neuen Testaments nennt er marxistisch, auch wenn er am Sozialismus so seine Zweifel hat.

Wie ein Missionar wirkt Daniel Gloor nicht, eher wie einer der Lehrer, die man als Jugendliche gern gehabt hat. Ein jungenhafter Typ, ein bisschen schüchtern, mit einem einnehmenden Lächeln und wachen Augen.

Seit vierzehn Jahren ist der 51-jährige Gloor ökumenischer Mitarbeiter von Mission 21, dem Missionswerk der evangelisch-reformierten Kirchen. Gerade ist er aus Costa Rica zurückgekehrt, wo er vier Jahre als Dozent für das Neue Testament und für Griechisch an der liberalen Universidad Bíblica Latinoamericana (UBL) in San José gearbeitet hat.

Gloor provoziert

Erzählt Gloor anderen, wo er arbeitet, eckt er oft an. In der Schweiz löst der Begriff «Mission» heutzutage vor allem negative Reaktionen aus. Das bekommt der gebürtige Zürcher zu spüren: «Es macht die Kommunikation mit Menschen ausserhalb kirchlicher Kreise sehr schwierig – ständig muss ich mich rechtfertigen.» Dabei sieht er seine Aufgabe nicht darin, andere zum Christentum zu bekehren. «Wäre ich in Lateinamerika mit dem Anspruch aufgetreten zu missionieren, hätten sie mich sofort ins nächste Flugzeug zurück gesetzt.»

Daniel Gloor sieht seine Arbeit als Austausch: Er geht mit seiner akademisch-theologischen Bildung an einen Ort, wo diese gebraucht wird. Dort erforscht er Land und Leute, lässt sich auf die lokale Kultur ein und lernt die Sprache. Gloor spricht fliessend Spanisch und Malaysisch und hat Hebräisch sowie Arabisch gelernt. Seinen StudentInnen berichtet er von Europa, in der Schweiz hält er Vorträge über seine Erfahrungen in Übersee – immer mit dem Ziel, gängige Stereotype zu hinterfragen. Und das kann er gut. Gloor provoziert, ohne dabei Grenzen zu verletzen. Mit ihm diskutieren die Studierenden auch über heikle Themen wie Homosexualität oder die Kolonialvergangenheit. Dabei ist es ihm wichtig, dass sie lernen, sich ihre eigene Meinung zu bilden, diese zu verteidigen und wenn nötig zu revidieren. Dabei wird auch sein eigenes Weltbild immer wieder infrage gestellt, was er geniesst.

Kein einzig wahrer Weg

Wie weit seine europäisch geprägte Bildung von der Lebenswelt mancher Studierender entfernt ist, erfuhr Gloor schon bei seinem ersten Auslandseinsatz Anfang der neunziger Jahre in Kamerun. Frisch von der Uni, wollte er den Studierenden einer theologischen Schule auf dem Land die historisch-kritische Methode nahebringen. Auf die Nachricht, dass man gar nicht so genau wisse, wer eigentlich was in der Bibel genau gesagt habe, reagierten die Studierenden mit Rebellion. Nach drei Monaten war Gloor drauf und dran aufzugeben. Heute weiss er, dass «nicht die ganze Welt dieselbe Exegese betreibt und es keinen einzig wahren Weg gibt».

Andere Auslegemethoden erarbeitete sich Gloor während eines Studienaufenthalts in den USA. In Princeton und New York setzte er sich intensiv mit afroamerikanischer Literatur auseinander. Hier begegnete er auch erstmals der lateinamerikanischen Befreiungstheologie. Deren gesellschaftskritischen Ansatz hält er bis heute für aktuell.

Wenn Gloor das Neue Testament lehrt, wählt er dezidiert die Perspektive der Armen, der Entrechteten. «Das Modell, das ich anwende, kann man ganz klar marxistisch nennen», sagt er. Es gehe darum, die Geschichte von unten her zu lesen und zu interpretieren. Gleichwohl fügt er hinzu, dass er das Wort «Marxismus» lieber vermeide, auch dessen militante Aspekte lehne er ab.

Sozialismus in der Bibel

Dennoch hegt Gloor Sympathien für den jungen Fidel Castro, intensiv hat er sich mit dessen Gedanken zu Jesus als Revolutionsführer beschäftigt. Doch die sozialistischen Regierungen von Kuba, Nicaragua oder Venezuela haben ihn nicht überzeugt. «Das Problem am Sozialismus ist der Mensch, denn wo er Macht und Vorteile haben kann, braucht es sehr viel Nächstenliebe und Idealismus, um zu teilen», sagt Gloor. Trotzdem sieht er in vielen Gleichnissen aus dem Neuen Testament dasselbe Grundkonzept. «Sozialismus ist, wie das Christentum, nicht einfach eine Ideologie, die man überstülpen kann», sagt er, «es ist der Mensch, der sich ändern muss.»

Mitte Dezember reist Daniel Gloor wieder aus, diesmal nach Malaysia, ans Sabah Theological Seminary auf der Insel Borneo. Hier hat er schon einmal zehn Jahre gelebt und gelehrt, hier lebt auch seine Freundin. Und obwohl er sich auf die Rückkehr freut, hinterfragt Gloor immer wieder den Sinn seines Tuns: «Ich kann noch so lange in Asien oder Lateinamerika leben, ich bleibe immer Europäer.»

Das kritische Denken, das er seinen Studierenden beizubringen versuche, sei letztlich auch etwas sehr Europäisches: «Wie weit hilft es ihnen, ihre Lebenswelt besser zu begreifen – oder wie weit zerstört es gewisse Dinge?» Darauf habe er bisher keine Antwort.