Wirtschaftskrise Japan: Abenomics auf dem Prüfstand

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Japans Regierungschef Shinzo Abe versucht, sein Land mit wirtschaftsliberalen Reformen aus der Krise zu ziehen. Dafür erntet er viel Lob. Doch es gibt auch immer mehr KritikerInnen.

Shinzo Abe, Japans liberaldemokratischer Regierungschef, hat ein eigenes Wirtschaftsrezept entwickelt: Abes Ökonomie – Abenomics. Mit einer Kombination aus lockerer Geldpolitik, Konjunkturprogrammen und Marktreformen will er die Wirtschaft auf dem Inselstaat nach Jahren der Wirtschaftskrise wieder zum Wachsen bringen. Unter anderem wurden Sonderwirtschaftszonen eingerichtet, wo mit Deregulierungen in den Bereichen Gesundheit, Erziehung und Landwirtschaft experimentiert wird.

ExpertInnen in Abes ideologischem Umfeld gehen jedoch mit ihren Reformvorschlägen noch weiter. Ihre Reissbrettspiele reichen bis zu einem Radikalumbau von Japans stark in die Gesellschaft eingebettetem Wirtschaftssystem nach US-amerikanischem Vorbild. Das Vorhaben wird als «Anpassung an den globalen Standard» definiert. Oberste Priorität haben die Arbeitsmarktreformen: Durch die Aufweichung oder gar Abschaffung des Kündigungsschutzes sollen die Unternehmen mehr Spielraum erhalten, um neue Wachstumsmärkte zu erschliessen.

Shinzo Abes Pläne geniessen in der Bevölkerung und den Medien zurzeit viel Rückhalt. Nach zwanzig Jahren wirtschaftlicher Stagnation und politischem Zickzackkurs hoffen viele auf eine Besserung. Die jungen Menschen erwarten bessere Arbeitsverhältnisse, Karrierechancen und mehr Möglichkeiten, um neue Ideen umzusetzen. Auch die satten Gewinne auf den japanischen Aktienmärkten, die seit Abes Amtsantritt im Dezember 2012 angefallen sind, haben viele betört. Und schliesslich ist das anstehende Reformpaket zu vage formuliert, als dass die Menschen dessen konkrete Auswirkungen auf ihr Leben voraussehen könnten.

KommunistInnen im Aufwind

Doch es gibt auch KritikerInnen. Sie befürchten, dass viele der Reformvorhaben an den Bedürfnissen der breiten Bevölkerung vorbeigehen werden. Wie so oft, so der kritische Tenor, versuche Japans Regierung, mit dem Wachstumsversprechen der Bevölkerung Deregulierungen schmackhaft zu machen, die am Ende bloss den Grosskonzernen nützen werden. Die Behauptung der Regierung, dass die Profite der Grossen am Ende allen zugutekämen, lässt der Kommunikationschef der Kommunistischen Partei Japans (KPJ), Toshio Ueki, nicht gelten. Dieser sogenannte Trickle-down-Effekt funktioniere nicht, wie dies einst möglicherweise einmal der Fall gewesen sei: Von Japans KMUs sind heute siebzig Prozent nicht rentabel. Eine wachsende Minderheit der JapanerInnen hält deshalb nicht mehr viel von solchen Politparolen. Dies zeigen die jüngsten Oberhauswahlen: Die KPJ, die die Wirtschaft und die Kaufkraft durch Lohnerhöhungen ankurbeln will, stieg in Tokio und Kioto zur zweitstärksten Partei auf.

Auch Nobuaki Takahashi, Professor an der Universität Ritsumeikan in Kioto, ist kein Freund von Abenomics. Er fordert ganzheitliche Lösungen: «Reformen, die die kulturellen Eigenheiten und historisch Gewachsenes ausser Acht lassen, führen unweigerlich zur Entfremdung.» Konkret: Japan könne nicht über Nacht eine individualistische Gesellschaft nach US-amerikanischem Vorbild werden. Im Geschäftsverkehr etwa spielten langjährige persönliche Beziehungen eine zentrale Rolle; Kaufentscheide basierten in Japan auf Vertrauen, massgeschneiderten Lösungen und individueller Beratung. Takahashi blickt deshalb mit Sorge auf viele japanische Provinzstädte, wo sich der Detailhandel in Form von grossen anonymen Supermärkten in sogenannten Speckgürteln rund um teilweise entleerte Zentren konzentriert. Solche US-amerikanische Verhältnisse passten nicht zu der zunehmend älter werdenden japanischen Gesellschaft.

Der asiatische Markt lockt

Skepsis herrscht jedoch nicht nur gegenüber den Auswirkungen von Abes Reformvorhaben auf Japans Gesellschaft. Sondern auch gegenüber der Behauptung, dass sie die Wirtschaft wieder zum Wachsen bringen. Yoshiyasu Ono, Wirtschaftsprofessor an der Universität Osaka und Wirtschaftsberater des ehemaligen Regierungschefs Naoto Kan, beschäftigt sich seit Jahren mit Ursachen und Folgen der Stagnation von sogenannten wirtschaftlich gesättigten Gesellschaften wie der japanischen, die sich bereits im 19. Jahrhundert industrialisiert hatte. Sein Fazit: «Wir leiden nicht seit fünfzehn Jahren unter geringem Wachstum und Deflation, weil wir zu wenig, sondern weil wir zu viel dereguliert und unsere Wirtschaft zu effizient gemacht haben.»

Gesättigte Gesellschaften, so Professor Ono, kämpften stets gegen eine Stagnation der wirtschaftlichen Nachfrage. Statt nun aber durch die Entwicklung neuer Produkte für zusätzliche Kaufanreize zu sorgen, suchten Japans Grosskonzerne das wirtschaftliche Heil in Kostensenkungen und Effizienzsteigerungen, um ihre Konkurrenzfähigkeit zu stärken. Seit Mitte der neunziger Jahre drängten die Wirtschaftsverbände auf die Liberalisierung der Arbeitsmärkte, die die Arbeitskräfte billiger und flexibler machen sollte. Insbesondere lockt der sich öffnende asiatische Markt, auf dem sich Japans Unternehmen mit ihren hochwertigen Produkten neue Absatzmärkte erhoffen, sofern sie ihre Produkte billiger anbieten können.

Doch diese Strategie, so ist Ono überzeugt, ist gleich doppelt gescheitert: Die Lohnsenkung führte zu fallendem Konsum; die Produktivitätssteigerung senkte die Preise, was den Konsum weiter schwächte, da alle hofften, dass morgen alles noch billiger würde. Japan kippte in die Deflation. Zusätzlich wurden auf dem Weltmarkt die neuen Wettbewerbsvorteile durch den stärker werdenden Yen vernichtet. Ono widerspricht dem gängigen Urteil, Japans Firmen hätten gegenüber ihren chinesischen und koreanischen Rivalen an Effizienz eingebüsst, schliesslich zeuge der steigende Yen von der Stärke der Wirtschaft. Die verschiedenen Branchen würden von der steigenden Währung unterschiedlich stark getroffen. Die am effizientesten arbeitenden Sektoren wie etwa die Autoindustrie machten den starken Yen durch weitere Produktivitätssteigerungen wett; schwache Branchen wie etwa die Haushaltsgerätehersteller hingegen verlören Marktanteile.

Eine wirtschaftliche Alternative

Der einzige langfristige Ausweg aus dem Teufelskreis aus Kostensenkungen und Währungsanstieg sieht Wirtschaftsprofessor Ono entsprechend in der Stärkung der Binnenkonjunktur und der Zunahme der Importe. Allerdings, so gibt er zu bedenken, zielten die bevorstehenden Arbeitsmarktreformen genau in die entgegengesetzte Richtung.

Eine einfache Patentlösung gegen Japans Stagnation sieht jedoch auch er keine. Die Nachfrage durch Produktinnovation ankurbeln zu wollen, sei in gesättigten Gesellschaften ein schwieriges Unterfangen. Immerhin einen Ansatzpunkt sieht Ono: Die derzeit nicht benötigten Arbeitskräfte sollten vom Staat in gesellschaftlich nützlichen Bereichen eingesetzt werden, etwa in der Pflege oder der Kinderbetreuung. Die zusätzliche Nachfrage nach Arbeitskräften würde den Lohndruck stoppen, damit den Weg aus der Deflation weisen und der Bevölkerung neues Vertrauen schenken. Dadurch wiederum würde mehr konsumiert.

Ono ist überzeugt, dass gesättigte Gesellschaften einen wirtschaftlichen Entwicklungsstand erreicht haben, der allen ein sorgloseres Leben ermöglichen würde – auch ohne grossartige Wachstumszahlen. Das Sozialwesen dürfe ohnehin nicht den privaten InvestorInnen überlassen werden, wie dies Abes Wachstumsstrategie vorsieht. Dies würde zu explodierenden Preisen führen und das flächendeckende Gesundheitsangebot zerstören. Der Staat müsse deshalb weiterhin eingreifen. Nebenbei: Japan widerlegt mit seiner unterdurchschnittlichen Staatsquote von vierzig Prozent des Bruttoinlandsprodukt die wirtschaftsliberale Behauptung, wonach ein schlanker Staat zu einer florierenden Wirtschaft führt.

Japans Regierung ist allerdings ohnehin zu schwach, um Reformen ohne breiten Konsens durchzudrücken. Die unzähligen gescheiterten Versuche der Vergangenheit zeugen davon. Und doch ist Abe derzeit nicht gewillt, den schwierigen, aber notwendigen Weg in Angriff zu nehmen und zu versuchen, die divergierenden Interessen angemessen zu berücksichtigen.

Japans junge Arbeitskräfte : Wer wagt, wird übertölpelt

Mifuyu Ando ist jung und sprüht vor Energie. Und die 33-Jährige hat Mut: Vor drei Jahren hängte die Japanerin ihren Job bei einem Grossverlag an den Nagel und gründete ihre eigene Firma. Ando war enttäuscht von ihrer Arbeit in einem von Japans Grossunternehmen, von der darin herrschenden geistigen Enge und dem Senioritätsprinzip – und ganz allgemein von einer Gesellschaft, in der die Angestellten der Grosskonzerne automatisch zur Elite des Landes gehören.

Deshalb wollte sie etwas Neues ausprobieren, ihren eigenen Lebens- und Arbeitsstil finden und so auch bei der Erkämpfung von Freiräumen für die Jungen mitwirken. JungunternehmerInnen weht in Japan ein rauer Wind entgegen, vor allem Frauen. Die Prüfkriterien bei der Vergabe von Kapitaldarlehen oder Kreditkarten sind streng, und das Mieten von Räumlichkeiten braucht Zeit. Am meisten aber machen Ando die ungeschriebenen Gesetze zu schaffen: «Kuki» nennt sich in Japan die gesellschaftliche Stimmung, in der den Experimenten von jungen Leuten mit Ablehnung begegnet wird.

Doch Mifuyu Ando liess sich nicht einschüchtern und hatte mit der Selbstständigkeit Erfolg. Sie ist heute eine gefragte Interviewpartnerin in den Medien und unter anderem Ratgeberin für Lebens- und Karriereplanung. Und sie hofft – wie viele ihrer AltersgenossInnen –, dass die Reformen von Regierungschef Shinzo Abe die starren Strukturen etwas aufweichen und der jüngeren Generation das Leben erleichtern werden.

Doch die Anzeichen verdichten sich, dass die Jungen wiederum von einem Premierminister übertölpelt werden: Bereits vor zehn Jahren hatte Junichiro Koizumi mit Zukunftsversprechungen und einem neuen Lebensgefühl für sein Liberalisierungsprogramm geworben. Am Ende waren die Jungen die grössten VerliererInnen seiner Arbeitsmarktreform.