Wirtschaftspolitik: Europas gefährlicher Oger

Nr. 4 –

Seit der globalen Finanzkrise 2008 malen ÖkonomInnen in Europa das Gespenst der Inflation an die Wand. Nun warnt der Internationale Währungsfonds vor einer Deflation, die Europa heimzusuchen droht. Zu Recht.

Als in der Finanzkrise 2008 die Zentralbanken weltweit ihre Zinsen auf ein rekordtiefes Niveau senkten, um den Totalkollaps abzuwenden, hoben ringsherum ÖkonomInnen ihre Mahnfinger, um vor der Inflation zu warnen. Die Preise werden explodieren, so die Angst, der Wert des Geldes sich entsprechend in Luft auflösen – und mit ihm die Vermögen der Menschen. Seither wurde die Prognose tausendfach wiederholt, nur bewahrheitet hat sie sich nicht. Der Internationale Währungsfonds (IWF) warnt nun gar vor der umgekehrten Gefahr: vor Deflation, einem Preiszerfall bei den Konsumgütern. IWF-Chefin Christine Lagarde sprach kürzlich von einem Oger, der insbesondere Europa tiefer in die Krise reissen könnte, einem Menschenfresser.

Woher dieser Widerspruch? An den Wirtschaftsfakultäten dominiert bis heute ein Bild von Zentralbankpolitik, wie es Milton Friedman, wirtschaftsradikaler Vordenker der Nachkriegszeit, skizziert hatte. Das Bild eines Helikopters, der Geldnoten über ein Land abwirft. Verdopple er die Menge des Geldes, die in Umlauf ist, verdoppelten sich auch die Preise. Die Idee ist nicht komplett falsch: In einem fiktiven Land, in dem 100 Franken existieren und es ausser 100 Broten dafür nichts zu kaufen gibt, kostet ein Brot einen Franken. Steigt die Geldmenge auf 200 Franken, steigt der Preis auf zwei Franken. Das Geld verliert an Wert, es gibt eine Inflation.

Würden die Zentralbanken das Geld mit Helikoptern über die jeweiligen Länder abwerfen, käme es tatsächlich zu einer Inflation: Die Bevölkerung würde das Geld auf den Strassen zusammensammeln, um es in den Einkaufsläden auszugeben. Die zusätzliche Nachfrage würde die Preise in die Höhe treiben; die Firmen würden zudem ihre Produktion hochfahren, wofür sie ihren Arbeitskräften höhere Löhne bezahlen müssten, was die Preise weiter zum Klettern brächte. Allerdings schenken die Zentralbanken ihr Geld nicht der Bevölkerung. Sie leihen es den Geschäftsbanken. Verfügen diese über mehr Zentralbankgeld, sind sie theoretisch in der Lage, mehr Kredite an Firmen zu vergeben. Diese kaufen damit Maschinen, worauf die Zulieferer neue Arbeitskräfte nachfragen, was deren Löhne – und damit die Preise der Maschinen – irgendwann in die Höhe treibt. Die steigenden Löhne heizen zusätzlich die wirtschaftliche Nachfrage an, was schliesslich die Preise der übrigen Produkte ebenfalls zum Steigen bringt.

Genau das geschieht derzeit jedoch nicht. Damit bleibt die Inflation aus, vor der sich Vermögende fürchten, aber auch der Aufschwung, von dem die arbeitende Bevölkerung profitieren würde. 24 Prozent der Jugendlichen in der EU sind ohne Arbeit. Trotz rekordtiefer Zinsen vergeben die Banken kaum Kredite, wie Mario Draghi, Chef der Europäischen Zentralbank, seit Monaten klagt. Stattdessen landet das Geld an den Börsen und auf den Immobilienmärkten. Seit Monaten sind die Börsenkurse am Klettern, entsprechend steigt die Gefahr neuer gefährlicher Finanzblasen. Erst vor ein paar Tagen hat die Beratungsfirma Pricewaterhouse Coopers vor Blasen auf den europäischen Immobilienmärkten gewarnt. Wenn Banken ihr Zentralbankgeld lieber in die Finanzmärkte stecken, statt Kredite an Firmen zu vergeben, dann gibt es in einer Marktwirtschaft eine einfache Erklärung dafür: Mit ersterem Geschäft lässt sich besser verdienen als mit letzterem. Trotz rekordtiefer Zentralbankzinsen sind die Zinsen, die die Banken für Kredite erhalten, zu tief – beziehungsweise das Ausfallrisiko zu hoch. Das Geschäft vieler Firmen läuft zu schlecht, die Nachfrage nach ihren Produkten ist zu schwach.

Die Ursache für die Nachfrageschwäche orten die europäischen Regierungen in einer mangelnden Wettbewerbsfähigkeit der Firmen. Deshalb werden nach dem Vorbild von Deutschlands Hartz-IV-Reform die Arbeitsmärkte dereguliert, damit die Löhne sinken – und damit auch die Preise. Zudem werden Staatsstellen gestrichen und Sozialgelder gekürzt. Die Ursache für die Nachfrageschwäche liegt jedoch genau in dieser Politik: Die breite Bevölkerung hat immer weniger Geld, um die hergestellten Produkte zu kaufen. Dies bringt die Firmen dazu, die Löhne weiter zu senken, die Preise sinken weiter, die Inflation verlangsamt sich: Seit Mitte 2011 fiel das Preiswachstum in der Eurozone von rund 3 auf 0,7 Prozent. Besonders tiefe Inflationsraten verzeichnen Krisenstaaten wie Irland oder Spanien. Griechenland und Zypern liegen bereits in der Deflation. Ihr Preisniveau sinkt.

Damit droht, wie IWF-Chefin Lagarde warnt, eine gefährliche Abwärtsspirale: Erwarten KonsumentInnen und Firmen sinkende Preise, schieben sie ihre Einkäufe auf, was die Wirtschaft weiter in die Krise stürzt. Das berühmteste Beispiel einer Deflation ist jene, die nach dem Börsenkrach von 1929 die Welt – insbesondere Deutschland – heimsuchte; Japan kämpft seit dem Platzen der Immobilienblase Anfang der neunziger Jahre mit einem Preiszerfall. Wenn die Inflation die Vermögen der Reichen frisst, so frisst die Deflation, der Oger, die Löhne der arbeitenden Menschen.

Um aus dieser Spirale auszubrechen, braucht es nicht eine noch lockerere Geldpolitik, die an den Finanzmärkten neue Blasen befeuert. Sondern anständige Löhne.