Durch den Monat mit Alexander Gentelew (Teil 2): Wie brachten Sie diese Leute dazu, über ihre Verbrechen zu sprechen?

Nr. 7 –

Der russisch-israelische Dokumentarfilmer Alexander Gentelew erzählt, wie er mit Mafiabossen Gespräche führte und dabei einmal schleunigst abhauen musste.

Alexander Gentelew: «Ich begegne meinen Protagonisten immer mit Respekt, egal ob sie ‹gut› oder ‹böse› sind.»

WOZ: Herr Gentelew, woher kommt Ihre Faszination für das organisierte Verbrechen?
Alexander Gentelew: «Faszination» ist lustig. Ich erkläre es Ihnen: 1996 begann ich mit den Dreharbeiten für meinen Film «Die Oligarchen». Ich begann zu verstehen, dass man unterscheiden muss zwischen Banditen, der Mafia und den Oligarchen. Damals kam mir die Idee, einen Film über die russische Mafia zu machen. Ich schaute mir viele Filme an, in denen Journalisten und Experten darüber sprachen – die Mafia selbst kam nie zu Wort.

Da beschloss ich, einen Film zu drehen, in dem die Mafiosi selbst die Protagonisten sind. Der britische Autor Misha Glenny, der mich für sein Buch «McMafia» interviewt hatte, sagte mir, das könne man nicht verwirklichen. Falls ich das tatsächlich schaffte, zöge er seinen Hut vor mir.

Das tat er dann auch, als «Diebe im Gesetz» in London gezeigt wurde. In Ihrem Film geben russische Mafiabosse wie Alimschan Tochtachunow, Witali Djomotschka oder Leonid Bilunow bereitwillig Auskunft über ihr Leben. Wie sind Sie an diese Leute überhaupt herangekommen?
Das war ein richtiges Irrenhaus und mit grossen finanziellen Risiken verbunden. Ich musste zum Beispiel 5000 Dollar zahlen, nur um die Telefonnummer von Leonid Bilunow zu bekommen. Ich rief an, er überprüfte mich, dann wollte er mich zuerst alleine treffen – er wohnt in Südfrankreich. Als wir uns einig wurden, überrumpelte ich ihn damit, dass ich meinen Kameramann mitgenommen hatte, und wir begannen zu drehen. Oder als ich mit Djomotschka in dessen Heimatstadt Ussurijsk im Fernen Osten fliegen wollte: Er sagte im letzten Moment ab, weil er per Haftbefehl gesucht wurde. Die Tickets konnten wir da nicht mehr umtauschen.

Wie brachten Sie es fertig, dass diese Leute vor der Kamera so offen über ihre Verbrechen sprachen?
Sehen Sie, ich begegne meinen Protagonisten immer mit Respekt, egal ob sie «gut» oder «böse» sind. Ich bin nicht mehr der Jüngste und habe genug noch so «anständige» Leute kennengelernt, die sich für weiss wen hielten und dennoch Schlechtes taten. Ich versuchte, die Welt dieser Mafiosi – in der ich nie war und in der ich auch nie sein möchte – zu verstehen. Ich wollte ihre Sicht der Dinge vermitteln, und ihnen war es wichtig zu zeigen, wer sie sind. Manche haben mir auch gesagt, ich solle mich verpissen. Als ich etwa Wjatscheslaw Iwankow, den sie dann 2009 umgebracht haben, erklärte, was ich vorhabe, sagte er mir: «Such schleunigst das Weite!» Da bin ich schnell abgehauen. Ja, solche Dinge ereigneten sich da jeweils.

Hatten Sie keine Angst?
Ich bin, offen gestanden, ein sehr ängstlicher Mensch. Doch diese Leute haben einen sehr ausgeprägten Ehrbegriff. Wenn sie sagten, dass sie gefilmt werden wollten, wenn wir das abgemacht hatten, galt ihr Wort. Und ich machte den Film ja ehrlich, ich ging nicht mit einer versteckten Kamera zu ihnen.

Die Diebe im Gesetz sind ein Produkt des sowjetischen Straflagersystems. Als kriminelle Elite konnten sie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit Schutzgelderpressungen einen grossen Anteil an den exorbitanten Gewinnen an sich reissen, die findige Unternehmer im Zuge der wilden Privatisierung erwirtschaftet hatten. Was ist das Spezifische an dieser Entwicklung in Russland?
Die Lagerkultur übte und übt einen sehr starken Einfluss auf die Gesellschaft aus. Jeder vierte Mensch in Russland sass schon mal im Gefängnis. So auch zwei meiner Onkel selig. Den einen, einen Oberst und dekorierten Weltkriegshelden, hat es gebrochen. Onkel Kolja dagegen, der noch sehr jung ins Gefängnis kam, nicht. Er wurde später sogar Minister. Als kleiner Junge verstand ich das noch nicht, erst viel später erfuhr ich, dass Onkel Kolja ein Dieb im Gesetz gewesen war.

Es gab in den neunziger Jahren keinen Geschäftsmann, keinen Oligarchen, der nicht mit diesen Kriminellen verbandelt war. Das gab es einfach nicht. Seither hat sich vieles verändert. Viele Diebe im Gesetz haben versucht, im legalen Geschäftsleben Fuss zu fassen. Schauen Sie sich die Fotografien von wichtigen Anlässen an. Da sind Diebe im Gesetz auch heute immer drauf, in der Nähe von einflussreichen Politikern und Wirtschaftsleuten. Das hat sich nicht verändert. Es wird die Diebe im Gesetz wohl immer geben, mittlerweile sind sie eine Tradition.

Mischt das organisierte Verbrechen auch bei den Olympischen Spielen in Sotschi mit?
Darüber wird in den russischen Medien viel spekuliert. In den letzten Jahren wurden verschiedene Diebe im Gesetz umgebracht, auch die Ermordung Wjatscheslaw Iwankows sieht die Presse im Kontext der Olympischen Spiele.

Ich weiss das nicht, ich stehe auch nicht mehr in Verbindung mit diesen Leuten. Sobald ein Film fertig gedreht ist, breche ich jeweils den Kontakt zu meinen Protagonisten ab. Vielleicht ist das nicht richtig so, aber das ist meine Regel.

Der Dokumentarfilm «Diebe im Gesetz» (2010) des russisch-israelischen Regisseurs Alexander Gentelew (54) ist ein exklusives Porträt aus der Mitte der russischen Unterwelt. Sein neuester Film «Putins Spiele» (2013) handelt vom Aufbau der Olympiastadt in Sotschi. Sobald etwas auf DVD herauskomme, werde es geklaut, sagt Gentelew. Entsprechend finden sich seine Filme auch auf www.youtube.com.