Jürgen Ploog: «Sturm, Monsun, Lichter»

Nr. 7 –

Hundert Jahre William S. Burroughs: Kaum einer hat sich derart mit Burroughs’ Werk befasst wie der ehemalige Pilot Jürgen Ploog. Ein Gespräch über Verschiebungen in Zeit und Raum, in Realität und Literatur.

Jürgen Ploog in Zürich: «William S. Burroughs sagte: ‹Es gibt keine Freunde, es gibt nur Komplizen.›»

WOZ: Jürgen Ploog, von Ihnen ist 1983 das Buch «Strassen des Zufalls» erschienen, das sich dem Werk von William S. Burroughs widmet. Sie waren zu jener Zeit ein bekannter Underground-Literat. Gleichzeitig waren Sie beruflich alles andere als ein Aussenseiter: Sie flogen als Lufthansa-Captain die grossen Passagiermaschinen rund um die Welt. Wie geht das zusammen?
Jürgen Ploog: Seit ich ein Teenager war, war Literatur meine grosse Leidenschaft. Und das Schreiben. Ich kann mir mich ohne Schreiben nicht vorstellen. Gleichzeitig war die deutsche Nachkriegsliteratur sehr streng und pflichtbewusst – Heinrich Böll und Vergangenheitsbewältigung –, während es mit dem Land geistig bereits wieder abwärts ging. 1958, da war ich 23, kamen zwei entscheidende Dinge zusammen: Einerseits las ich «On the Road» von Jack Kerouac. Das sprühte vor Leben. Es faszinierte mich. In Kerouac fand ich eine Stimme, die mein Lebensgefühl ausdrückte: Ich wollte frei sein, unterwegs sein. Andererseits las ich in einer Zeitungsannonce, die ziemlich neu gegründete Nachkriegs-Lufthansa suche Pilotennachwuchs. Ich hatte keine Ahnung vom Fliegen, aber das Pilotendasein schien mir diesem Lebensgefühl sehr nahezukommen. Also bewarb ich mich. Ein paar Monate später trat ich in die Flugschule ein.

Welche Maschinen flogen Sie?
Zuerst, so fängt man an, die Kurzstrecke. Dann schnell die Langstrecke. Ich flog alle damaligen Maschinen: Convair, 707, 737, später dann auch den Jumbo, die 747. Schon bald flog ich alle Strecken, die die Lufthansa damals bedient hat: nach Afrika, Asien, Südamerika, Nordamerika, Japan, zu den Polen. Ein Trip war damals ganz anders. Heute fliegt ein Pilot nach Bangkok und am nächsten Tag wieder zurück. Damals flog die Lufthansa nur einmal pro Woche nach Bangkok, und ein Trip dauerte für die Crew vierzehn Tage. Die Route war voller Stopps, drei Tage in Karachi, drei Tage in Bangkok, dann nach Tokyo und von dort die ganze Tour zurück. Es waren die Sechziger, das goldene Zeitalter der Fliegerei.

Wann war es damit vorbei?
In den Achtzigern. Als der Jumbo gebaut wurde. Man stockte von 150 auf 400 Passagiere auf, und diese Kapazität musste man zuerst einmal füllen, also senkte man die Preise. Heute fliegt jeder für ein Trinkgeld um die Welt. Demokratisierung. Wunderbar. Andererseits: Kann das gut sein? Die Fliegerei ist zum simplen Busbetrieb geworden. Mehr Pisten, grössere Flughäfen, Proteste der Anlieger, Sextourismus, überfüllte Hotels, Betrug und Beschiss. Die Masse senkt nun mal die Qualität, das war schon immer so. Alles geht vor die Hunde. Der Lauf der Dinge. Vielleicht hätte man besser auf meinen Freund Paul Bowles gehört, den Schriftsteller und Komponisten.

Was sagte Bowles?
«Jürgen, danke für das Angebot, aber du kannst alleine fliegen. Ich bin doch kein Vieh auf dem Weg zur Schlachtbank. Ich nehme das Schiff.»

Während Sie rund um die Welt flogen, wurden Sie zu einem Vertrauten von William S. Burroughs. Wie kam das?
Zuerst einmal war ich erschlagen von seinem Werk. Jack Kerouac verlor für mich, kaum hatte ich zu fliegen begonnen, an Bedeutung. Das konforme Schreiben war den ständigen Verschiebungen von Zeit und Raum nicht mehr gewachsen. Ich sass in meiner Bude in Frankfurt und begann eine Story, die in London spielte. Mittendrin führte mich ein Job nach New York, und als ich zurückkam, dachte ich: London? Was? Aber ich bin doch jetzt im Kopf in New York. Raus mit der Seite! Neue Story: Bar Lower East Side, Hinterhof in Brooklyn. Mittendrin war die dreitägige Flugpause wieder vorbei. Diesmal ging es nach Fernost: Bangkok, Sturm, Monsun, grelle Lichter. Zurück in Frankfurt war ich auf dem Papier noch immer in New York, aber im Kopf in Asien. Also wieder raus mit der Seite! So kam ich nicht weiter. Jede Stadt hat ein eigenes Fluidum. Nur, wie orientierte ich mich im Dazwischen? War ich gleichzeitig halb dort und halb hier? Ständig waren Raum- und Zeitverschiebungen im Gange. Wo also war ich? Cut-up war die Antwort.

Die Schreibmethode, die William S. Burroughs geprägt hat.
Die Cut-up-Methode verschaffte mir die Möglichkeit, Gedanken, Orte, Zeiten auf dieselbe Bühne der Vorstellung zu bringen: Ich nahm zwei Seiten, über New York und Bangkok zum Beispiel, zerschnitt sie, klebte die Stücke anders zusammen und führte den neuen Inhalt schriftstellerisch aus. Der Schnittprozess liess mich ganz neue Dinge entdecken. Cut-up war eine grosse Wahrnehmungsmaschine, die Globalisierung des Schreibens: Thailänder tauchen in New Yorker Bars auf, die Londoner Metro fährt durch Delhi. Keine Grenzen mehr. Nirgendwo. Das entsprach auch meiner Auffassung von Zeit.

In «Strassen des Zufalls» verweisen Sie auf den Forscher J.W. Dunne und die Theorie, «dass die Vorstellung von Zeit als Raum realistischer wäre als jene einer bewegten Linie».
Unser eindimensionales, lineares Zeitverständnis wird der Wirklichkeit nicht gerecht: Wir leben in einem komplexen Zeit-Raum-Gebilde, in dem ich mich nach allen Seiten bewegen kann. Die Zeit verläuft nicht als Linie, sie ist ein Raum.

Können Sie das etwas ausführen?
Die gängige Vorstellung ist: Morgens beginne ich den Tag, abends ist Schluss, am nächsten Tag geht es weiter. So aber lebt der Pilot nicht. Er durchlebt Unterbrechungen, Verschiebungen. Die Zeitlinie ist eindimensional, unser Raum dreidimensional. Die Raum-Zeit-Einheit, in der wir leben, ist demnach vierdimensional. Unser lineares Zeitverständnis ist vom Buchdruck geprägt – die Schrift läuft in Linien ab. Der Computer, ein Punktinstrument, reisst bereits Löcher in diese Linie, in die Vorstellung von serieller Zeit. Zwischen jetzt und heute Abend und den verschiedenen Orten, an denen wir uns aufhalten, gibt es keine zeitlich lineare Verbindung.

Das Leben ist ein Zickzack?
Das Leben ist ein Feuerwerk.

Jetzt sind wir abgeschweift. Eigentlich wollte ich wissen, wie es kam, dass Sie zu einem engen Vertrauten von Burroughs wurden.
Ich traf ihn zum ersten Mal 1969 in London. Bukowski-Übersetzer Carl Weissner, mit dem ich in Frankfurt eine Underground-Literaturzeitschrift herausgab, stellte uns vor. Von da an pflegten wir einen intensiven Austausch. Burroughs war sehr direkt. Nichts hintenherum, nichts von wegen «Wie geht es dir heute?». Das war nicht seine Sache. Smalltalk interessierte ihn nicht. Meistens trafen wir uns in seinem Bunker in New York. Wir sprachen viel über Literatur und über Träume. Mit seinem Lieblingsthema, Waffen, konnte ich allerdings nicht viel anfangen. Einmal brachte ich ihm von einer Reise ein Blasrohr mit, das hat ihn sehr gefreut. Befreundet waren wir in seinen Augen trotzdem nicht.

Sie waren Freunde, aber nicht befreundet?
Burroughs sagte: «Es gibt keine Freunde, es gibt nur Komplizen.»

Man dreht in erster Linie zusammen Dinger?
Ja, sehr sachbezogen halt. Man tauscht sich aus, der eine erledigt dies, der andere das, einer steht Schmiere. Dabei vertraue ich dem anderen, und notfalls trennen wir uns, und jeder geht seine Wege. Diese Auffassung gefiel mir, ich teilte sie. Auch wenn ich vieles andere nicht geteilt habe.

Was zum Beispiel?
William war ein extremer Mensch mit extremen Positionen. Er hatte eine extreme Vorstellung von Realität, der man nicht in allen Einzelheiten folgen musste. Frauen betrachtete er als unnötige Sache. Überall sah er Konflikte, Kontrolle, kriegerische Auseinandersetzungen, Mächte, die sich verschworen. Er war überzeugt, dass nichts passiert, ohne dass ein Wille dahintersteckt. Als er 1951 beim Wilhelm-Tell-Spiel seine Frau erschoss, war er überzeugt, dass ihm der hässliche Geist, wie er es nannte, die Hand geführt habe. Er war überzeugt, dass es ihm als erfahrenen Schützen nie hätte passieren können, aus drei Metern Entfernung statt des Glases den Kopf zu treffen; dass also die hässliche Macht von ihm Besitz ergriffen hatte und dass er den Kampf mit dieser Macht aufnehmen wollte und dass ihn das zum Schriftsteller gemacht hat. Ich war eher der Ansicht, dass es nicht gerade die feine Art ist, mit einer Pistole auf seine Frau zu schiessen.

Als Pilot kann man es sich wohl nicht leisten, an Geister zu glauben?
Durchaus kann man das. Burroughs meinte explizit einen hässlichen Geist, keinen guten oder bösen, sondern einen hässlichen, zerstörerischen Geist. Man sagt ja: Der Teufel steckt im Detail. Das Mittel des Piloten gegen diesen hässlichen Geist ist Kontrolle. Sie werden kaum einen Piloten finden, der grobe Fehler macht. Wenn etwas passiert, passiert es immer aufgrund einer Verkettung kleiner Dinge, die falsch laufen. Ein Schalter, der nicht umgelegt ist. Klitzeklein, den sieht man gar nicht. Es ist Nacht im Cockpit, draussen regnet es. Weil der Schalter nicht funktioniert, steuert der Pilot in die falsche Richtung. Reicht immer noch nicht aus, dass es brenzlig wird. Da muss dann noch plötzlich ein Berg stehen, oder eine Stewardess kommt in die Kabine gesprungen und sagt, da hinten hat einer einen Herzinfarkt.

Wurde es bei Ihnen brenzlig?
Einmal ist hinten einer gestorben, das ist alles.

War Burroughs eigentlich mal Ihr Passagier?
Einmal. Er hatte eine Ausstellung in Frankfurt und kam von Chicago. Über dem Atlantik ging ich zu ihm und fragte, ob er ins Cockpit komme, die Sicht sei herrlich. Er lehnte schroff ab. So war er. Dabei ist die Sicht aus dem Cockpit, das unglaubliche Panorama, das, was ich richtig vermisse, seit ich in Rente ging.

Kann man auf Drogen fliegen?
Nein. Aber in der Tat hatte ich manchmal mulmige Gefühle wegen meines Lebens als Pilot auf der einen Seite und als Underground-Poet auf der anderen.

Eben doch die Drogen!
Aber nicht so wie Sie meinen. Ich malte mir einfach immer wieder mal aus, dass da hinten einer sitzen könnte, der ein Buch von mir gelesen hat und sagt: «Was, Ploog fliegt? Diese Opiumpackung? Da steig ich wieder aus.» Das hätte dann womöglich zu einer Untersuchung geführt. Aber es ist nie passiert. Was den Umgang mit Stimulanzien und Halluzinogenen angeht: Ich war, was das Fliegen anging, sehr diszipliniert, so wie es Burroughs mit dem Schreiben war. Ich bin nie high geflogen.

Kann man auf Drogen schreiben?
Nein.

Burroughs hat doch das Gegenteil bewiesen.
Sie irren. Ein Junkie kriegt nichts auf die Reihe. Er hat sein Leben als Junkie beschrieben, aber nicht als Junkie geschrieben.

Wie ordnen Sie sein Werk ein?
Er war eine überragende literarische Figur des 20. Jahrhunderts. Das Entscheidende ist aber womöglich gar nicht sein Werk, sondern dessen Ausstrahlung: Seine Weltsicht hat viele stark beeinflusst, in der Punkszene zum Beispiel. In seiner Schreibe steckte eine Kraft, von der sich viele inspiriert fühlten. Patti Smith etwa sah in ihm eine Art Übervater, einen Verbündeten, und mit ihr viele andere.

Er aber hat für die Menschheit ziemlich schwarzgesehen.
Er bot auch Lösungen an.

Zum Beispiel?
In der Weltraumexpansion sah er die Rettung der Menschheit. Ich gebe zu: Da bin ich als Pilot doch eher skeptisch. Schon allein wegen der Wurmlöcher.

Burroughs und Ploog

Der US-Autor William S. Burroughs (1914–1997) prägte die literarische Collagemethode des Cut-up und das Selbstverständnis der Gegenkultur entscheidend mit. Zur Popikone geworden, verstarb er 1997 in Kansas.
Der Autor und ehemalige Pilot Jürgen Ploog (78) ist ein Kenner von Burroughs’ Werk. Letzte Woche war Ploog, einer der wichtigsten deutschen Underground-Schriftsteller, auf Lesetour in der Schweiz.