Eskalation in der Ukraine: Steht der schwache Staat vor dem Zerfall?

Nr. 8 –

Die Opposition ist für die Gewalt rund um den Maidanplatz in Kiew mitverantwortlich. Sie verfolgt eine Strategie der Zuspitzung. Die EU müsste jetzt vermitteln, statt mit Sanktionen zu drohen. Ein Kommentar.

Gerade jetzt, nach über zwanzig Toten und Hunderten von Verletzten, gilt: Der Konflikt in der Ukraine kann nur gelöst werden, wenn es zu einem Dialog zwischen der Regierung und der Opposition kommt. Der Westen müsste in diesem Sinn seine Stimme erheben. Eine einseitige Schuldzuweisung in Richtung von Präsident Wiktor Janukowitsch hilft da nicht weiter. Spätestens jetzt, da sechs Polizisten durch Kugeln aus den Reihen der DemonstrantInnen starben, müsste der Westen eingestehen, dass eine Lösung nicht in der einseitigen Unterstützung zugunsten der ukrainischen Opposition liegen kann. Denn die Gefahr eines Bürgerkriegs und einer Spaltung des Landes rückt immer näher.

Der Konflikt im ukrainischen Parlament – am Dienstag war es nicht zu der erhofften Abstimmung um die Wiedereinführung der Verfassung von 2004 gekommen – löste die gewaltsamen Strassenschlachten aus. Doch Schuld daran hat nicht allein die Regierung. Dies sah auch die Kreml-kritische Moskauer Zeitung «Kommersant» so, die am Mittwoch kommentierte: «Die Parlamentssitzung zeigte, dass weder die Regierung noch die Opposition bereit sind, Kompromisse einzugehen. Zum Streitpunkt wurde, wie und in welchem Tempo die jetzige Verfassung reformiert wird.» Die Opposition forderte die unverzügliche Wiedereinführung der Verfassung von 2004 und eine Beschneidung der Rechte des Präsidenten. Die regierende Partei der Regionen wollte die Verfassung hingegen langsam ändern.

Grosse soziale Kluft

Dass es in der Ukraine zu einer solchen Eskalation kommen könnte, hielten einige BeobachterInnen schon Anfang Dezember für möglich, als die Präsidialadministration von AnhängerInnen des Rechten Sektors angegriffen und über hundert Polizisten durch Stahlketten und Pflastersteine verletzt wurden. Damals hatten die Führer der Opposition so getan, als sei Gewaltanwendung vonseiten der DemonstrantInnen unvorstellbar – nur bezahlte Provokateure seien zu solchen Taten fähig. Inzwischen ist klar, dass die paramilitärisch organisierten Gruppen des nationalistischen und rechtsradikalen Spektrums die Proteste stark prägen.

Dass die Rechten zunehmend die Kontrolle über die Proteste übernehmen konnten, hat mehrere Gründe. Die Distanz zwischen Volk und Staatsapparat ist mit der Entfaltung des Kapitalismus in der Ukraine sehr gross geworden. Abgeordnetenmandate können mit grösseren Dollarbeträgen gekauft werden, für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung hat sich die soziale Lage in den letzten zwanzig Jahren kaum verbessert. 500 Euro Monatseinkommen in Grossstädten und 250 Euro in der Provinz gelten als normal.

Einseitige Parteinahme

Die Ukraine ist wegen ihrer Abhängigkeit von den Exporten nach Russland (Maschinenbau, Chemieindustrie), wegen fehlender Energieressourcen, einer insgesamt veralteten Industrie und Infrastruktur sowie eines massiven Haushaltsdefizits ein schwacher Staat, der zudem auf die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds angewiesen ist. Sie droht zwischen den benachbarten Mächten EU und Russland aufgerieben zu werden. So hat Russland im November 2013 mit Importbehinderungen für ukrainische Produkte Druck auf die ukrainische Regierung ausgeübt und deren Entscheidung hinsichtlich eines Abkommens mit der EU stark beeinflusst.

Nicht weniger massiv war freilich auch die Einflussnahme der EU und der USA. Hochrangige PolitikerInnen, darunter die EU-Aussenbeauftragte Catherine Ashton und der ehemalige deutsche Aussenminister Guido Westerwelle, waren auf dem Maidanplatz in Kiew präsent. Westliche Medien ergriffen einseitig Partei für die DemonstrantInnen, und Witali Klitschko durfte die deutschen LeserInnen fast täglich via «Bild»-Zeitung auf seine kompromisslose Linie einstimmen.

Die einseitige Parteinahme des Westens hat bei der radikalen Opposition in Kiew Illusionen genährt: Wenn man den Westen dazu bringt, Sanktionen zu verhängen, dann werde der verhasste Präsident schon stürzen. Ausserdem erhob sie einen Alleinvertretungsanspruch – nur sie spreche für das «von einer korrupten Machtclique gefangen gehaltene Volk». Als hätte nicht auch Präsident Janukowitsch AnhängerInnen. Diese gefährliche Politik, die zu einer Spaltung des Landes führen kann, hat der Westen kritiklos hingenommen, faktisch sogar unterstützt.

Derweil ist abzusehen, dass die Militanten in Kiew mit einer Räumung des Maidan nicht verschwinden werden. Schon bei der ersten grossen Strassenschlacht Ende Januar, bei der drei Demonstranten starben, hatte sich gezeigt, wie gross das Gewaltpotenzial der radikalen Opposition ist. Es ist durchaus denkbar, dass die Militanten – die im westukrainischen Lwiw eine Polizeibehörde besetzten und Waffen erbeuteten – zum Partisanenkampf übergehen, ganz nach dem Vorbild der Ukrainischen Aufstandsarmee UPA, die im Zweiten Weltkrieg an Massakern an Jüdinnen und Polen beteiligt war und die danach bis Mitte der fünfziger Jahre gegen sowjetische Sicherheitsorgane kämpfte.

Maximalforderungen oder Dialog?

Ob die Oppositionsführer und die Regierenden in Kiew die Entwicklung hin zu einem Bürgerkrieg aufhalten können, ist offen. Witali Klitschko hat mit seinen Maximalforderungen – Rücktritt von Präsident und Regierung, Verfassungsänderung und Neuwahlen – viel zur Eskalation beigetragen. Ob er und die beiden anderen Oppositionsführer Arseni Jazenjuk und Oleg Tjagnibok überhaupt Verständnis dafür haben, dass der Konflikt nur durch Kompromisse mit Janukowitschs Lager zu lösen ist, darf bezweifelt werden. Zu sehr war die Entwicklung der letzten zweieinhalb Monate von ihrer Strategie der Zuspitzung geprägt. Janukowitschs Angebot an Jazenjuk, den Posten des Ministerpräsidenten zu übernehmen, schlug der Fraktionsvorsitzende der Vaterlandspartei Ende Januar aus. Wahrscheinlich haben sich die Oppositionsführer noch nicht einmal Gedanken darüber gemacht, was nach einem Sturz von Janukowitsch eigentlich passieren soll und wie sie den Süden und den Osten der Ukraine hinter sich bekommen wollen. Ihre zahlreichen Aufrufe zu einem Generalstreik wurden – ausser in einigen westlichen Bezirken der Ukraine – nicht befolgt.

Gewiss, Wiktor Janukowitsch hat seine Familienmitglieder mit lukrativen Posten versorgt und sich selbst eine teure Villa bauen lassen. Aber reicht das schon aus, ihn als Verhandlungspartner zu verdammen? Der Präsident ist autoritär, aber kein Diktator. Immerhin wurde der Fernsehkanal TV 5, der seit Beginn der Demonstrationen positiv und ausgiebig über die Proteste berichtete, erst am Dienstag abgeschaltet – nach dem Tod von sechs Polizisten, die offenbar aus den Reihen der DemonstrantInnen erschossen wurden. Auch die Tatsache, dass die Generalstaatsanwaltschaft im Tausch gegen die Räumung der Stadtverwaltung 230 DemonstrantInnen freiliess, zeigt, dass die Regierung an einer Beilegung des Konflikts interessiert war. Anders die Opposition. Deren Führung hat bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe die gezielten Schüsse auf die Polizisten nicht öffentlich verurteilt.

Die Rechnung für diese Zuspitzung zahlen die einfachen UkrainerInnen. Der Machtkampf wird sich voraussichtlich noch länger hinziehen. Das verschlechtert die wirtschaftliche Lage weiter. Jetzt wäre die Stunde jener EuropäerInnen gekommen, die verstanden haben, dass gewaltsame Konflikte in Staaten am Rand des russischen Einflussbereichs gefährliche Dimensionen annehmen können. Aber bis die EU das versteht, dreht sich die Gewaltspirale weiter.