Ukraine: Ein Land wird gefleddert

Nr. 10 –

Abends gab es oft keinen Strom. Und weil Gullideckel regelmässig geklaut wurden, um das Alteisen zu Geld zu machen, lauerten überall Löcher. Das war Alltag in der Ukraine. Nach der Jahrtausendwende schien es aufwärtszugehen. Nun waren Kredite verfügbar. Die Leute kauften Fernsehgeräte, schöne Möbel und Autos.

Doch 2008 schlug die Krise zu. Viele versanken in Schulden. Die Griwna verlor an Wert, und die ausländischen Investitionen gingen zurück. Es wurde wieder eng. Vordergründig war das nicht so schlimm. Man freute sich auf die Fussballeuropameisterschaft, die die Ukraine 2012 zusammen mit Polen austragen durfte. Neue Stadien und Hotels wurden gebaut, die Städte geputzt. Die EM gab dem Land das Gefühl, Teil eines prosperierenden Ganzen zu sein, zu Europa zu gehören. Doch das täuscht. In der Ukraine läuft eine Tragödie ab, die sich – selbst wenn man dort ist – nur schwer fassen lässt. Der entmachtete Präsident Wiktor Janukowitsch ist zwar ein gieriger Despot, aber er hat die Tragödie nicht erfunden, er spielte nur mit.

1991 wurde die Ukraine unabhängig. Doch war es ökonomisch so, als ob man ein Glied vom Körper trennt und verordnet, es solle sich künftig selber versorgen. Die Ukraine war Teil der sowjetischen Ökonomie, viele ihrer Betriebe waren wichtige Zulieferer dieses Systems, aber alleine und isoliert nicht mehr produktiv. Alles gehörte dem Staat – die Landwirtschaftsbetriebe, die Minen, die Stahlwerke oder die Energieversorger. Da man sich über Nacht von der Planwirtschaft verabschiedet hatte, blieb nur noch der kapitalistische Weg. Und damit begann vor 23 Jahren das gigantische Projekt «Privatisierung».

Parlament und Regierungen haben in all den Jahren nicht viel mehr getan, als Stück für Stück des öffentlichen Hab und Guts zu veräussern. Janukowitsch und sein Sohn haben sich dabei kräftig bedient; und mit ihnen viele andere skrupellose Geschäftsleute. Viele von ihnen unterhalten in der Schweiz Firmen und haben hier Gelder parkiert. Einigen hat der Bundesrat nun die Konten gesperrt, weil sie in Ungnade fielen. Andern nicht, weil sie rechtzeitig zur Opposition übergelaufen sind.

Der Westen stört sich nicht am Ausverkauf der Ukraine. Er hätte es einfach gerne ein wenig anders. So wie es Wiktor Juschtschenko und Julia Timoschenko gemacht haben, als sie nach 2004 die Ukraine regierten. Auch sie haben offensiv privatisiert, aber eben «demokratisch». Etwa Kriworischstal, das grösste Stahlwerk des Landes: Leonid Kutschma, Janukowitschs Vorgänger, wollte es für einige Hundert Millionen US-Dollar an ukrainische Oligarchen verkaufen. Dann kamen Juschtschenko und Timoschenko an die Macht, organisierten eine öffentliche Versteigerung und verkauften das Werk für fast fünf Milliarden Dollar an Mittal Steel, einen der grössten Stahlkonzerne der Welt.

Ein Grossteil des einstigen Staatseigentums ist inzwischen verscherbelt. Zu haben sind noch Kohleminen, Gas- und Ölpipelines und vor allem Agrarland. Noch ist es verboten, Land an ausländische Firmen zu verkaufen. Doch über langfristige Pachtverträge kontrollieren internationale Agrokonzerne bereits die Hälfte des Agrarlands. Weder Weltbank noch Währungsfonds oder EU möchten diesen Prozess stoppen. Sie wollen, dass Grosskonzerne mitmischen können und dass nicht nur Oligarchen abkassieren.

Die Ukraine wird seit zwanzig Jahren gefleddert. Die Bevölkerung sieht machtlos zu. Keine der politischen Parteien hat eine Antwort darauf – weil sie das Drama nicht als Tragödie wahrnehmen, sondern primär als Chance, sich ebenfalls zu bereichern. Viele der DemonstrantInnen vom Maidanplatz wollten das nicht mehr. Die «Opposition», die inzwischen die Macht übernommen hat, tut aber wieder dasselbe und setzt – im Schatten von Präsident Putins Drohgebärden auf der Krim – Oligarchen als Gouverneure ein.

Das Land müsste in einem ersten Schritt weg vom allmächtigen Zentralismus, das gäbe mindestens mehr Demokratie in den Regionen. Das mag utopisch klingen. Doch die Alternative heisst Nationalismus. Und der treibt das Land nur weiter in den Abgrund.