Leipziger Buchmesse I: Politik im «Wirtschaftswunderland»

Nr. 11 –

Kurz bevor die diesjährige Leipziger Buchmesse ihre Pforten öffnet, hat der deutsche Literaturbetrieb einen veritablen Skandal hervorgebracht. Ein Stückchen weiter, im Dresdner Schauspielhaus, breitete die Büchner-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff kürzlich und vor sonntäglich geneigtem Publikum ihre Ansichten über die verwerfliche Machbarkeit des Menschen am Anfang und Ende des Lebens aus. Vor allem ihre Vorstellungen von im Reagenzglas gezeugten Kindern als «Halbwesen», «künstlichen Weissnichtwas» veranlassten zu heftigen Distanzgesten und trieben die Erregungskurve in die Höhe. Es folgten eine pflichtschuldige Halbentschuldigung und der Verweis auf die Meinungsfreiheit.

Wahrscheinlich wird die Aufregung, wenn die Büchertonnen in Leipzig einmal in den Regalen stehen und sich das Fach- und Klatschpublikum durch die Messehallen wälzt, schon wieder abgeebbt sein und eine andere Sau durchs sächsische Dorf an der weissen Elster getrieben werden.

«Politisch» soll das Leipziger Bücherfest auf jeden Fall werden: Wenn die Schweizer Volksabstimmung auch literarisch nicht zu annullieren ist, werden die Abgesandten der gebildeten Stände doch unter Erklärungsdruck kommen (vgl. nebenstehender Beitrag).

Für Zündstoff könnte auch der kleinere Länderschwerpunkt Ukraine/Belarus sorgen, immerhin wird der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch direkt aus dem Protestlager vom Maidan in Kiew erwartet. Seine Mitte Februar gegenüber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» geäusserte Hoffnung, dass die Menschen im Osten der Ukraine noch mehr auf die Strasse gehen und mit ihren Protesten eine zweite Front eröffnen würden, ist in unerwarteter Weise eingetroffen. Der Titel seiner neuen Erzählung «Die höchste Form der Hinrichtung» jedenfalls ist wie ein böses Omen für die Situation in der Ukraine.

Leipzig brüstet sich nicht nur als ältester deutscher Büchermessestandort – seit dem 17. Jahrhundert werden dort Druckwerke umgesetzt –, sondern eben auch als brisanter politischer Ort, von dem die sogenannte Revolution von 1989 ihren Ausgang nahm. Aber auch das ist schon eine Weile her. Inzwischen hat im «Wirtschaftswunderland Sachsen» der Homo oeconomicus die Oberhand gewonnen, mit Leipzig als Fels in der Brandung.