Syrien: Die Islamisten und das Chaos

Nr. 12 –

Die Faruk-Brigaden und andere RebellInnen versuchen, der grenzenlosen Brutalität der radikalislamistischen Gruppierungen etwas entgegenzusetzen. Mit mässigem Erfolg, wie ein Augenschein in Nordsyrien zeigt.

«Diese Leute sind Terroristen»: Scheich Bassam Ayaschi vor dem ehemaligen Hauptquartier des Islamischen Staats im Irak und in der Levante (Isil) in Hassanu.

«Hier und hier», sagt Abu Azzam und deutet auf seine dreizehn Narben am Oberkörper und an den Beinen: «Das sind Wunden von einer Kalaschnikow.» Der Kommandant der Faruk-Brigaden steht vor dem Sofa im schmucklosen Salon seiner Wohnung, die etwas ausserhalb von Antakya liegt. Die südtürkische Grenzstadt ist im Lauf des über dreijährigen syrischen Konflikts zum Rückzugsort und Planungszentrum der RebellInnen geworden. Schon dreimal habe man versucht, ihn zu ermorden, sagt der 35-Jährige: «Zweimal die Nusra-Front und einmal Daisch.»

Daisch ist das arabische Akronym des Islamischen Staats im Irak und in der Levante (Isil). Die Organisation versteht sich – wie die Konkurrenz von der Al-Nusra-Front – als Vertreterin von al-Kaida, obwohl diese den Chef von Isil nicht mehr anerkennt. «Daisch» wird von Abu Azzam bewusst benutzt und ist abwertend gemeint. Für Isil ist die Abkürzung ein Ausdruck von Respektlosigkeit und wird mit Stockschlägen bestraft. «Daisch sind die Schlimmsten von allen islamistischen Gruppen und müssen als Erste weg», sagt Abu Azzam und zündet sich eine neue Zigarette an.

Die Feinde der Islamisten

Isil ist berüchtigt für grenzenlose Brutalität, die sich gegen alle richtet, die mit ihrer rigiden Auslegung der Scharia, dem islamischen Recht, nicht konform gehen. Rauchen ist verboten, Alkohol sowieso. Alle Bilder müssen aus dem öffentlichen Raum verschwinden, Frauen müssen sich vollständig verschleiern und zudem Handschuhe tragen. Wer Kritik übt, riskiert, verhaftet, gefoltert und exekutiert zu werden. Die Gruppe unter der Führung von Abu Bakr al-Bagdadi kommt aus dem Irak und tauchte in Syrien erstmals im April 2013 auf. Sie übernahm sofort eine Führungsrolle innerhalb der syrischen Revolution und kontrollierte innerhalb von sechs Monaten den grössten Teil der Rebellengebiete. Isil wird von religiösen Führern und Geschäftsleuten aus den Golfstaaten finanziert und soll über grosse Einnahmen aus Schutzgelderpressungen im Irak verfügen. Sie hat die meisten und die besten Waffen. Der Grossteil der Kämpfenden stammt aus dem Ausland und sucht das Märtyrertum.

Im Januar ist ein offener Krieg mit Isil ausgebrochen, nachdem Angehörige der Organisation zuvor verschiedene Kommandanten rivalisierender Rebellenbrigaden schwer misshandelt und enthauptet hatten. Isil wurde daraufhin aus den meisten ihrer Stellungen in Aleppo und Umgebung vertrieben. Über 3000 Menschen sollen bisher bei diesem internen Rebellenkonflikt getötet worden sein. Isil ist jetzt nur mehr in wenigen Städten im Norden Syriens präsent. Ihr Hauptquartier liegt im Osten, in der Provinzhauptstadt Rakka, mit einem Einflussgebiet bis zur irakischen Grenze.

«Wir sind die verhasstesten Feinde der Islamisten», meint Abu Azzam, der eigentlich Muhammad al-Daher heisst. «Wir sind für Demokratie und Meinungsfreiheit und gegen jeden, der mit Gewalt über Andersdenkende regieren will.» Etwas Schlimmeres könnten sich diese Islamisten nicht vorstellen. «Deshalb sind wir für sie Kuffer, Ungläubige, und haben in ihren Augen den Tod verdient.» Der Kommandant ist eine der Führungsfiguren der Faruk-Brigaden, die sich der Syrischen Revolutionären Front (SRF) angeschlossen haben. Das ist ein Bündnis aus vierzehn Gruppen der Freien Syrischen Armee (FSA), das im Dezember 2013 gegründet wurde.

«Es war ein Schritt, der nach der Bildung der Islamischen Front (IF) einen Monat zuvor notwendig geworden war», erläutert Abu Azzam. Die IF ist heute als Verbund von sieben islamistischen Gruppen die grösste Rebellentruppe. Zu ihr gehören die bekannten Brigaden Ahrar al-Scham, Sukur al-Scham oder auch die Islamische Armee. «Das sind alles Heuchler», meint der Faruk-Kommandant. «Sie haben Daisch nur zögerlich bekämpft.»

Neue saudische Waffenlieferungen?

Für Abu Azzam ist es absurd, dass es Verhandlungen zwischen westlichen Staaten und der IF geben soll. «Man will ihnen Waffen in die Hand geben, weil sie Daisch bekämpfen.» Mitten in unser Gespräch hinein klingelt das Telefon. Der Kommandant steckt sich die Kopfhörer ins Ohr. Es ist Jamal Maruf, der Chef der SRF. Abu Azzam versichert ihm, dass er die 4000 Schuss Munition für 23-mm- und 14,5-mm-Geschütze sowie 25 Panzergranaten wie geplant an die Front von Kafra Hamra geschickt habe, wo man Daisch bekämpft. «Sie sind unterwegs», sagt er zum wiederholten Mal, bevor er auflegt. «Maruf war heute hier zum Mittagessen», klärt uns Abu Azzam auf. Ihm und der SRF solle der Westen Waffen geben. Aber in den letzten Monaten seien so gut wie keine angekommen. «Wie üblich wird viel versprochen, aber nichts wird geliefert.»

Abu Azzam meint damit die Ankündigung der syrischen Oppositionsführung, die im Januar versicherte, militärische, sogar «kriegsentscheidende» Hilfe sei unterwegs. Davon ist aber kaum etwas zu sehen – bis auf chinesische Panzerabwehrraketen, die offenbar an eine Brigade aus den Kalamun-Bergen geliefert wurden. Es sind Lenkwaffen, die Ziele in einer Entfernung von bis zu vier Kilometern treffen können. Anfang 2013 sollen schon einmal 3000 Tonnen Waffen aus Kroatien über Jordanien nach Syrien gelangt sein. Saudi-Arabien hatte damals die Lieferung nach dem Plazet der USA und mit britischer Hilfe gekauft und organisiert. Doch nach wenigen Wochen kämpften nicht mehr wie vorgesehen nur die adressierten moderaten Rebellengruppen damit, sondern auch radikalislamistische Gruppen wie die Al-Nusra-Front.

Saudi-Arabien soll die Waffen dieses Mal in Pakistan und im Sudan eingekauft haben. Wie die Nachrichtenagentur AFP meldete, befinden sich darunter auch sogenannte Manpads – Luftabwehrraketen, die Flugzeuge abschiessen können und die eine ideale Waffe für Anschläge darstellen. Ein gefährliches Spiel: Die Annahme, die Lieferung würde in den Händen der ausgewählten, moderaten Gruppen bleiben, hat sich schon einmal als falsch erwiesen.

Nach der Vertreibung von Isil

«Ich glaube, Sie sind nicht ganz bei Trost, nach Syrien zu reisen», sagt ein türkischer Grenzbeamter bei Bab al-Hawa, der ungläubig unsere Pässe kontrolliert. Seine Überraschung ist durchaus verständlich. Denn seit über fünf Monaten überquerte hier kein westlicher Journalist mehr die Grenze. Isil hatte systematisch Jagd auf JournalistInnen gemacht und sie entführt. Insgesamt 39 Presseleute sollen sich in ihrer Gewalt befinden. Auf syrischer Seite versichert Abu Hadi, der Kommandant der IF, der am bedeutendsten Grenzübergang zur Türkei für die Sicherheit verantwortlich ist: «Kein Grund zur Sorge.» Man habe Daisch aus der gesamten Region vertrieben. Es gebe noch Stützpunkte in der Nähe von Aleppo, aber die seien weit entfernt.

Mitten ins Gespräch platzt die Ankunft von Scheich Bassam Ayaschi. Der Geistliche ist ein Kadi, ein islamischer Richter, der in den gesetzlosen Zeiten der Revolution für Recht und Ordnung sorgen will. «Alles genau nach den Prinzipien der Scharia», sagt er. Über seiner Brust hängen eine alte französische Pistole, eine Handgranate und Handschellen. Ayaschi lebte lange Zeit in Belgien und geniesst dort den zweifelhaften Ruf eines «Terroristen mit Verbindungen zu al-Kaida». 2008 wurde er in Italien verhaftet; nach vier Jahren im Gefängnis ist seine Verurteilung dann von einem Berufungsgericht aufgehoben worden.

«Die Leute von Daisch sind Terroristen», sagt der sympathisch wirkende Scheich. In einem Krankenwagen fahren wir mit ihm und seinen drei Leibwächtern nach Hassanu, eine Kleinstadt etwa zwanzig Kilometer hinter der Grenze, unweit von Fua und anderen Dörfern, die noch vom Assad-Regime besetzt sind. «In Hassanu wurde zuerst gegen Daisch gekämpft», behauptet der Scheich, der auf der Fahrt die Pädagogik seiner Schariaprinzipien erklärt. Einem Vergewaltiger habe man eine Kapuze über den Kopf gezogen und einen Strick um den Hals gelegt. Als man ihn vom Stuhl stiess, landete er jedoch auf den Füssen. «Es war eine Scheinexekution», erklärt Ayaschi. «Dabei hat er sich sogar in die Hosen gemacht», fügt der Imam sichtlich amüsiert an. «Er wird nie mehr eine Frau belästigen.» Zurzeit sei auch ein Dieb bei ihnen im Gefängnis. «Er bekommt täglich zehn Stockhiebe.»

Überall in Hassanu ist nach der Vertreibung von Isil Erleichterung zu spüren. «Am Anfang verteilten sie noch Lebensmittel und Medikamente», berichtet Hadschi Mahmud, ein Mitglied des lokalen Rats. «Doch dann wurden Bewohner verhaftet und einige exekutiert.» In der Nachbarstadt al-Dana hätten sie die Leichen einfach auf der Strasse liegen lassen, fügt er hinzu. «Sie wollten überall Probleme provozieren, besonders mit religiösen Minderheiten.» Das Hauptquartier des Isil, ein zweistöckiges Gebäude, steht heute leer. Die Fenster und Rollläden sind zerschossen. Der Isil-Schriftzug ist übermalt worden. Jetzt kann man «Die Armee der Mudschaheddin» lesen. «Wir sind glücklich, dass Daisch weg ist», sagt der Inhaber eines Ladens auf der gegenüberliegenden Strassenseite.

Eine «Ausgeburt des Teufels»

Zum offenen Krieg mit Isil kam es in Hassanu, nachdem die Extremisten ein Attentat auf Scheich Saleh verübt hatten. Scheich Saleh ist ein angesehener religiöser Führer der Region und überlebte den Anschlag schwer verwundet. Der Scheich soll zu Beginn der Revolution prominente Deserteure versteckt haben. Unter ihnen soll auch Selim Idriss, der vormalige Chef der FSA, gewesen sein. «Ja, ich half Idris und anderen Generälen über die Grenze in die Türkei», bestätigt Scheich Saleh, als wir ihn in seinem Haus besuchen. Mit dunkler Sonnenbrille und seinem langen, zerfransten grauen Bart sieht er recht skurril aus.

Für den Geistlichen ist Isil die Ausgeburt des Teufels. «Ihre Religion hat mit dem Islam nichts zu tun», sagt auch der Scheich. «Ausserdem werden sie vom Assad-Regime gesteuert.» Sie seien vom syrischen Geheimdienst unterwandert, sollten nur Chaos säen und das Image der Revolution beschmutzen. Es ist eine Meinung, die man seit Wochen oft zu hören bekommt. Dabei wird verschwiegen, dass die Mitglieder dieser Gruppierung lange Zeit als Helden bejubelt wurden. Isil kämpfte bis vor kurzem noch gemeinsam mit der Al-Nusra-Front gegen die KurdInnen im Nordosten. In Aleppo galten beide Islamistengruppen als Elitetruppen, die geholt wurden, wenn die FSA vergeblich Kasernen oder Stützpunkte der Syrischen Armee einzunehmen versuchte. Ausserdem gab es sehr gute Beziehungen zur Islamischen Front, die man in Hassanu meist favorisiert.

Chaos unter den RebellInnen

Zurück in Antakya, treffen wir Abu Muhammad, einen ehemaligen Kämpfer der FSA, der so schmächtig ist, dass man sich ihn kaum mit einer Kalaschnikow vorstellen kann. Einige Kämpfer seiner Brigade hatten ihn und andere Rebellen im Stich gelassen und in Todesgefahr gebracht. «Statt uns mit ihren Panzerabwehrraketen zu unterstützen, sind sie damit verschwunden und haben sie verkauft.» Abu Muhammad erkennt ein immer grösser werdendes Chaos von rivalisierenden Gruppen. «Es fehlt an Organisation und einer gemeinsamen Strategie», meint er frustriert.

Nutzniesser sei das Regime, das sich mehr und mehr auf dem Vormarsch befinde. In Aleppo fehle nicht mehr viel, bis die Stadt völlig eingekreist sei, weiss Abu Muhammad. Der Kampf mit Daisch sei natürlich ein Grund dafür, aber die Offensive der Armee habe bereits im Oktober begonnen. «Damals sind sie über As-Safira vorgestossen, eine im Süden von Aleppo gelegene, strategisch entscheidende Stadt, in der die Rebellen nur 250 Mann stationiert hatten.» Das sei typisch für die fehlende Planung bei vielen RebellInnengruppen.

Abu Muhammad ist skeptisch. «Wenn nicht sehr bald grosse Waffenlieferungen eintreffen, ist die gesamte Revolution gefährdet.»

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