Fussball und andere Randsportarten: Der Eisberg von Bern

Nr. 13 –

Pedro Lenz über den grössten Kommunikator im Schweizer Fussball

Seit im Profifussball die Funktion des Liberos, also des freien Verteidigers, aus der Mode gekommen ist, verteidigen die meisten Fussballteams mit einer Viererabwehrkette. Das Wort ist zugegebenermassen nicht besonders poetisch. Es will besagen, dass die vier Abwehrspieler eines Teams eine Art Kette bilden, die sich je nach Bedarf seitlich oder vor- und rückwärts bewegt. Das tönt vielleicht ein bisschen kompliziert. Aber es ist halt tatsächlich kompliziert. Die vier Verteidiger müssen immer aufeinander achten, darauf schauen, dass sie gegenseitig Lücken schliessen, dass keiner zu weit hinten steht und das Offside aufhebt, dass sie sich nicht gegenseitig im Weg stehen und so weiter.

Bei den Berner Young Boys hat dies zu Beginn der Saison sehr gut geklappt. Aber dann hat sich Torhüter Marco Wölfli an der Achillessehne verletzt. Und seit er nicht mehr spielt, haben die Gelbschwarzen in neun Spielen neunzehn Tore kassiert (durchschnittlich 2,1 Gegentore pro Spiel). Zum Vergleich: Mit Wölfli im Tor kamen die Berner auf achtzehn Gegentore in siebzehn Spielen (1,05 pro Spiel).

Interessant dabei ist der Umstand, dass der Ersatztorhüter Yvon Mvogo das wohl grösste Goalietalent des Landes ist. Der Mann hat fantastische Reflexe, und obwohl er noch keine zwanzig ist, strahlt er eine unglaubliche Ruhe aus. Alle, die ihn spielen sehen, sind begeistert von seinem Stil, seiner Coolness und seiner Sprungkraft. Es gibt kaum ein Gegentor, das er auf seine Kappe nehmen muss. Und trotzdem musste der junge Goalie bisher doppelt so oft hinter sich greifen wie sein verletzter Kollege. Wenn jetzt aber klar scheint, dass der neue Torhüter zwischen den Pfosten nicht schlechter ist als sein Vorgänger, stellt sich zwangsläufig die Frage, warum denn die Equipe auf einmal so viele Tore erhält.

Die Erklärung liegt in der Funktion der Viererkette. YB hat vier gute Verteidiger. Dass sie gut sind, haben sie in der ersten Saisonhälfte zur Genüge bewiesen. Aber in letzter Zeit standen sie oft ein wenig falsch, eine Spur zu hoch oder zu tief, ein paar Zentimeter zu weit auseinander oder zu nahe beisammen, irgendwo im Abwehrbereich, aber halt nicht genau dort, wo sie hätten stehen müssen.

Von der Tribüne herunter sieht es manchmal aus, als fehlte ihnen der Kompass. Und der Kompass dieser Viererkette ist offensichtlich der verletzte Marco Wölfli. Der Mann aus Grenchen, der über ein halbes Fussballerleben bei YB zwischen den Pfosten stand, wurde nicht selten kritisiert. Obwohl er für die Schweiz elf Länderspiele bestritten hat, fand sich für die Nationalmannschaft meistens ein anderer Torwart, der gerade ein bisschen schöner, ein bisschen stärker oder ein bisschen angesagter war. Für jenen Teil des Berner Publikums, der nur auf die Paraden achtet, gehörte Wölfli zwar zu den guten, aber selten zu den allerbesten Torhütern im Land.

Erst jetzt, da Marco Wölfli fehlt, wird manchen Fans allmählich bewusst, wie hervorragend der 31-Jährige als Kompass der Abwehr funktioniert hat. Seine Ansagen an die Abwehrspieler sind weder auf den Rängen noch im Fernsehen zu sehen. Aber ganz offensichtlich sind genau diese Ansagen, diese kleinen Korrekturen, die einen Innenverteidiger dazu auffordern, sich leicht nach links oder rechts zu verschieben, und einen Aussenverteidiger darauf aufmerksam machen, dass er das Loch, das der vorstürmende Kollege hinterlassen hat, vorübergehend schliessen soll, oft spielentscheidend.

Mit der Arbeit eines Fussballgoalies verhält es sich ähnlich wie mit einem Eisberg. Wir sehen nur den kleinen Teil, der aus dem Wasser ragt, alles andere bleibt der Betrachterin oder dem Betrachter verborgen. Oder, anders gesagt, die Muskeln sind wichtig, aber entscheidend ist die Kommunikation. Wölfli ist der grösste Kommunikator des Schweizer Profifussballs. Das musste einmal gesagt werden.

Pedro Lenz (49) ist Schriftsteller und lebt in Olten. Er befasst sich nebenberuflich mit der Kommunikationsfähigkeit von Goalies aller Art.