Kommentar: Erdogan spielt die Menschen gegeneinander aus

Nr. 13 –

Wie viele Stimmen verliert die türkische Regierungspartei AKP bei den Wahlen am Wochenende? Und wie reagiert der Ministerpräsident?

«Alles, nur nicht Erdogan» – diese Meinung hört man oft, wenn man fragt: «Wen wirst du bei den Kommunalwahlen am 30. März wählen?» Dabei steht Ministerpräsident Tayyip Erdogan gar nicht zur Wahl, aber es geht um seine politische Zukunft, das wissen alle. Seine überspannten Zensurerlasse wie das Verbot von Twitter zeigen: Er ist angezählt. Hat er gar am Wochenende Kampfjets der türkischen Luftwaffe über dem syrischen Grenzgebiet in den Wahlkampf geschickt? Ob wahr oder nicht – entscheidend ist, dass man ihm das mittlerweile zutraut.

Die Staatssicherheit der DDR nannte das einst das «Zerrüttungsprinzip». Die Schlapphüte des Sozialismus erkundeten die Schwachstellen einer «Zielperson» und schwärzten sie dann bei Verwandten, Nachbarn, auf der Arbeit und im Sportverein so lange an, bis sie unglaubwürdig und isoliert war.

So etwa ergeht es derzeit der türkischen Regierung. In immer schnellerem Takt werden Dokumente und Tonbänder veröffentlicht. Es geht schon lange nicht mehr nur um Korruption. Das ganze Land werde regiert wie eine Bananenrepublik – lautet die Botschaft. Erdogan wird bestochen, bestellt Gerichtsurteile, lässt JournalistInnen feuern oder ändert am Telefon die Regeln für die Vergabe von staatlichen Aufträgen, weil ihm ein Unternehmer nicht passt. Kaum einer seiner Minister ist besser, deren Familien auch nicht und die Gouverneure und, und, und. Kurz: Der Mann ist erledigt – wenn nur nicht klar wäre, dass er respektive seine Partei bei der Wahl wohl wieder die meisten Stimmen holt.

Erdogan gewinnt also. Aber wieso? Die türkische Gesellschaft ist in fast allen wichtigen Fragen tief gespalten – und Erdogan spielte bislang äusserst erfolgreich damit. Egal ob es um Friedensgespräche mit den KurdInnen geht, um die Gleichbehandlung der Frau in der Gesellschaft oder um die Einführung eines Regierungssystems mit einem mächtigen Staatspräsidenten – immer sind laut Umfragen genauso viele dafür wie dagegen. Das Institut Metropoll ermittelte im Januar: 58 Prozent glauben, die Justiz sei bei der Untersuchung der Korruptionsvorwürfe gegen Regierungsmitglieder behindert worden. Trotzdem halten rund 40 Prozent der Befragten Erdogans Regierungsstil für in Ordnung, nur 42 Prozent finden ihn nicht gut.

Dem Regierungschef gelingt es, die Menschen gegeneinander auszuspielen. In elf Städten der Türkei leben 53 Prozent aller Wahlberechtigten – und die meisten davon sind in den letzten zwanzig bis dreissig Jahren vom Land in die Stadt gezogen. Istanbul hatte vor dreissig Jahren gerade 3 Millionen EinwohnerInnen – heute weiss nicht einmal die Stadtverwaltung, ob es 20 oder 25 Millionen sind. Dort leben moderne StädterInnen und Zugezogene, die sich an den alten Sitten und Gebräuchen orientieren, nicht miteinander, sondern nebeneinander. Und Erdogan hetzt sie immer wieder gegeneinander auf. Man muss in Istanbul nur über die Strasse gehen, um von einem Viertel mit Bars und Nachtclubs in ein Quartier zu kommen, in dem man kaum Alkohol findet.

Erdogan bedient jene rund vierzig Prozent, die nicht vergessen haben, dass es in der Republik Türkei fast immer nur starke Führungsfiguren gab, Führer wie Mustafa Kemal Atatürk, Adnan Menderes, Turgut Özal – und jetzt eben Erdogan. Ohne solche Figuren, das glauben viele, herrsche unerträglicher Parteienstreit und Regierungschaos. Diese WählerInnen scheren sich nicht sonderlich um ein Twitter-Verbot, und ein bisschen Säbelrasseln gegen einen unbotmässigen Nachbarn kommt da auch gut an.

Und wie reagiert die Opposition darauf? Mit der Vision einer demokratischen Türkei? Von wegen. Der Kandidat der Republikanischen Volkspartei (CHP) für den Posten des Oberbürgermeisters in Istanbul, Mustafa Sarigül, hat in den letzten dreissig Jahren siebenmal die Partei gewechselt. Gerüchte begleiten seine Zeit als Bürgermeister des reichen Istanbuler Stadtteils Sisli, Gerüchte über schillernde Immobilienprojekte mit ihm als Patron. Prozesse laufen gegen ihn wegen Verstössen gegen Bauvorschriften, wegen Veruntreuung von Geldern – und er verspricht, er werde allen helfen, die wegen eines illegal gebauten Hauses Probleme mit dem Grundbuchamt haben, er werde die Moscheen künftig auf Staatskosten putzen lassen, in fünf Jahren 200 Kilometer U-Bahn bauen und so weiter. Sarigül tritt auf, wie man es von einem Parteiführer alter Schule erwartet: halbseiden und unglaubwürdig.

Trotzdem wird er bei den Wahlen wohl mehr Stimmen erhalten, als er bislang selbst gehofft hatte. Denn Erdogan hat erreicht, was Sarigül selber wohl kaum geschafft hätte: Er hat die Opposition vereint. Aber wer bekommt die Stimmen? Die CHP? Oder der neu gegründete Ableger der KurdInnenpartei BDP? Das ist eher unwichtig: Gezählt wird vor allem, wie viele Stimmen die AKP weniger bekommen hat.

Denn das Zerrüttungsprinzip wirkt: Mit Attacken wie jener gegen Twitter torkelt Erdogan inzwischen Richtung Lächerlichkeit, einen Kampf gegen das Internet kann er nicht gewinnen. Vor einem Jahr wurde noch gemunkelt, er werde im August zum Präsidenten mit weitreichenden Kompetenzen gewählt. Vor der Stimmenauszählung am Sonntag wettet kaum jemand darauf, dass er im Herbst überhaupt antreten kann.