Syrien: Fassbomben, Gottes Wille und Demokratie

Nr. 16 –

Die syrischen Regierungstruppen lassen Aleppo ausbluten. Die zerstrittenen Islamisten leisten verstärkt Widerstand. Und mittendrin versucht sich Dschamal Maruf zu behaupten, der neue Liebling des Westens.

«Das Regime macht den Menschen das Leben unmöglich»: Aleppo am 8. April.

Es ist ein unangenehmes Gefühl: Ständig kreisen Kampfflugzeuge über Aleppo. Ihr Dröhnen ist ohrenbetäubend. Aber die Helikopter, die Fassbomben abwerfen, sind unten in der Stadt kaum zu hören. Jeden Augenblick kann eines dieser mit Sprengstoff, Benzin und Nägeln gefüllten Fässer niedergehen. Mehrfach kommen wir in der nordsyrischen Metropole an Häusern vorbei, die vor wenigen Minuten auf diese Weise zerstört worden sind. Verzweifelt suchen Menschen mit blossen Händen nach Überlebenden und brauchbaren Dingen.

Die Bevölkerung aushungern

«Bis zu fünfzig Fassbomben fallen an einem Tag», sagt Osman al-Hadsch Osman, der als Arzt im 2012 zerstörten Dar-al-Schifa-Krankenhaus auch im Westen bekannt geworden war. «Das Regime macht den Menschen das Leben unmöglich», fügt er an. «Der überwiegende Teil der Bevölkerung hat die Stadt verlassen.» Die meisten Strassen Aleppos sind menschenleer. Laut der internationalen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch sind in Aleppo seit November 2013 über 2400 Menschen durch das Bombardement getötet worden.

Selbst Krankenhäuser werden bombardiert. «Alle medizinischen Einrichtungen wurden in den letzten Monaten angegriffen», sagt Osman. «Die Vertreibung der Zivilisten gehört zur Militärstrategie des Regimes. Man will die Stadt einkreisen und die verbliebenen Menschen, wie in anderen Städten schon geschehen, einfach aushungern.» Seit Dezember ist die syrische Armee in Aleppo auf dem Vormarsch. Es fehlen nur noch neunzehn Kilometer, bis die Hochburg der Opposition im Norden des Landes eingekreist sein wird.

Mit den radikalen Islamisten, die in Syrien ansonsten Oberwasser haben, kann Doktor Osman nichts anfangen. Weil er die Flagge des Al-Kaida-Ablegers Al-Nusra-Front vom Dach seines Spitals entfernt hatte, wurde er zwei Wochen lang eingesperrt. Als letztes Jahr der noch extremistischere Islamische Staat im Irak und in der Levante (Isil) einen Grossteil der Stadt unter Kontrolle gebracht hatte, musste Osman fliehen. «Sie sagten mir: ‹Jetzt haben wir keine Zeit, dich zu töten, aber wir versprechen dir, wir machen das später.›»

Der Isil wurde im Januar aus der Stadt vertrieben. Nun kann sich Osman wieder in Aleppo um seine PatientInnen kümmern. Draussen ist erneut ein Mig-Militärflugzeug am Himmel zu sehen. Wartende Taxifahrer haben vorsorglich ihre Wagen verlassen und suchen Deckung. Zur Erleichterung aller dreht das Kampfflugzeug ab.

Islamisten gegen Islamisten

Die erste Rebellenbrigade, die in diesem Frühjahr in Aleppo den Kampf mit dem Isil aufnahm, war die Dschaisch al-Mudschaheddin (Armee der Mudschaheddin). «Man konnte nicht mehr dulden, dass sie Hunderte von Leuten verhafteten, sie systematisch folterten und ermordeten», sagt Mudschaheddin-Führer Abu Kutaiba im Hauptquartier der Rebellenformation, die im Januar eigens zum Kampf gegen die extremen Islamisten gegründet worden war. «Der Isil ist aus Aleppo vertrieben», sagt Abu Kutaiba, «jetzt können wir uns ganz auf das Regime konzentrieren.»

Die Armee der Mudschaheddin begann am letzten Wochenende die seit 2012 wohl grösste Offensive gegen die Regierungstruppen. Die Rebellen sollen den Stadtteil Ramuseh erobert und den Nachschubweg des Regimes zwischen internationalem Flughafen und einer Militärbasis abgeschnitten haben, in der sich auch eine Waffenfabrik befindet. «Wir warten doch nicht, bis uns das Regime einkreist», sagt Abu Kutaiba. «Mit dieser grossen Offensive haben wir sie überrascht», fügt er schmunzelnd hinzu. «So ist eben der Krieg. Das sollten sie mittlerweile wissen.»

Die Dschaisch al-Mudschaheddin gehört zur Freien Syrischen Armee (FSA), die vom überwiegenden Teil der islamistischen Kräfte abgelehnt wird. Anders als die FSA vertritt die Armee der Mudschaheddin aber keine demokratischen Positionen. Wie für andere Islamisten sind für sie Konzepte wie der Volkswille sinnlos. Auch sie befolgt den «Willen Allahs» und vertritt die Scharia, das islamische Rechtssystem.

«Der neue Liebling des Westens»

Auf Wahlen und Demokratie will sich aber auch Dschamal Maruf, der Anführer der Syrischen Revolutionären Front (SRF), nicht festlegen lassen. Seine Miliz spielte eine Führungsrolle unter den FSA-Verbänden, die den Isil aus der Provinz Idlib vertrieben haben. Mit einem öffentlichen Bekenntnis zu demokratischem Gedankengut könnte er die Islamische Front und die Al-Nusra-Front vergraulen. Die SRF kooperiert mit beiden im Krieg gegen den Isil und auch gegen das Regime. «Nach dem Sturz Baschar al-Assads muss das syrische Volk entscheiden, was es will», sagt Maruf, ohne sich weiter festzulegen. Gleichzeitig betont er, der vormals ein einfacher Arbeiter war und nun als Milizenführer mit Millionen von Franken jongliert: «Wir werden jeden bekämpfen, der seinen Willen mit Gewalt anderen aufzudrängen versucht.»

Es ist kein Geheimnis, dass es zwischen der Al-Nusra-Front, der Islamischen Front und dem Isil nur wenige ideologische Unterschiede gibt: Alle wollen die Scharia als einzige Rechtsgrundlage. Politische Partizipation oder freie Meinungsbildung und -äusserung gelten als westliches Teufelswerk. Trotzdem will Maruf jetzt nicht von der wohl unausweichlichen Auseinandersetzung mit den Islamisten sprechen. «Über die Zukunft können wir uns momentan keine Gedanken machen», meint der 36-Jährige diplomatisch.

«Der neue Liebling des Westens», wie Maruf seit seinem Kampf gegen den Isil gerne bezeichnet wird, soll mit der Hilfe Saudi-Arabiens und der USA grosse Waffenlieferungen erhalten haben, inklusive neuer Panzerabwehrwaffen und sogar Manpads, mit denen man Flugzeuge abschiessen kann. «Es gab und gibt viele Versprechungen, aber nichts von dem ist wahr», sagt Maruf. «Es gibt Unterstützung, aber die ist lange nicht so gross, wie manche denken.» Er kämpfe nicht nur gegen Präsident Assad, sondern auch gegen Russland, den Iran und die libanesische Miliz der Hisbollah, die aufseiten der syrischen Armee in den seit über drei Jahre andauernden Bürgerkrieg eingegriffen hat. «Der Westen lässt uns und das Volk von Syrien völlig im Stich», sagt Maruf. «Schreiben Sie das zu Hause, das ist wichtig.»

Extremistische Gruppierungen : «Wir sind tolerant»

Al-Scham (Grosssyrien) ist für sie nur der erste Schritt auf dem Weg zurück zum islamischen Weltreich. Man träumt von der «Rückeroberung» Mekkas, Istanbuls und Andalusiens. «So Gott will, wird uns das gelingen», meint Abu Muhammad, der vom Islamischen Staat im Irak und in der Levante (Isil) zu Jund al-Aksa, den Soldaten Jerusalems, gewechselt ist. Der 42-Jährige, der vor sechzehn Jahren zum Islam konvertierte, stammt aus Belgien und ist einer von über tausend Europäern, die bei radikalen Islamistengruppen kämpfen.

«Der Isil hat viele Fehler gemacht, deshalb bin ich gegangen», erzählt Abu Muhammad. Mit Fehlern meint er die gnadenlose Verfolgung von allen, die im Verdacht stehen, die Organisation zu kritisieren. Folter und Mord stehen beim Isil auf der Tagesordnung, und er ist bekannt dafür, «Ungläubigen» den Kopf abzuschneiden, was auch Abu Muhammad zu rechtfertigen weiss: «Für Europa klingt das schockierend, aber die Leute sind doch gleich tot.»

In den extremistischen Kreisen, zu denen auch die Al-Nusra-Front oder Ahrar al-Scham gehört, spielen Politik oder Ökonomie eine untergeordnete Rolle. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes «Gotteskrieger». Sie setzen einen vermeintlichen Auftrag Allahs durch. «Es ist eine spirituelle Kraft, die die Welt aus der Balance gebracht hat», glaubt Abu Muhammad. Man könnte darüber lächeln, wenn die Sache nicht so gefährlich wäre.

«Wir sind tolerant», meint Abu Muhammad. «Aber auf Dauer kann in al-Scham nur jemand leben, der die gleiche Vision wie wir Salafisten hat.» Wem Kalifat und Scharia nicht gefallen, macht sich besser aus dem Staub.

Alfred Hackensberger

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