The Great Migration: Hatties grosser Aufbruch

Nr. 16 –

Über sechs Millionen AfroamerikanerInnen wanderten zwischen 1915 und 1970 aus der Sklavenhaltergesellschaft im Süden der USA aus. Romandebütantin Ayana Mathis erzählt die Geschichte einer dieser BinnenmigrantInnen.

Ein unbekanntes Stück US-Geschichte: In Florida bereitet sich 1940 eine afroamerikanische Familie auf die Reise nach New Jersey vor. Foto: Jack Delano

Die Geschichte der matriarchalischen Hauptfigur in Ayana Mathis’ erstem Roman «The Twelve Tribes of Hattie», der dieser Tage unter dem Titel «Zwölf Leben» in deutscher Übersetzung erscheint, beginnt 1923 mit Hatties Migration aus dem Südstaat Georgia nach Philadelphia. Mathis beschreibt die ersten Eindrücke der Fünfzehnjährigen von der Ostküstengrossstadt: «Die Negroes traten hier nicht in den Strassengraben, um die Weissen passieren zu lassen, und sie starrten nicht verbissen auf die eigenen Füsse. Vier dunkelhäutige Mädchen schlenderten vorbei, Teenager wie Hattie, die miteinander schwatzten. Junge Frauen im Gespräch halt, kichernd und unbeschwert, gingen und redeten sie auf eine Art, wie nur weisse Mädchen gingen und redeten in den Strassen von Georgia.»

Hattie beschliesst, was immer ihr der Norden der USA bringen mag: In den Süden wird sie niemals mehr zurückgehen. Zwei Jahre später ist sie bereits verheiratet und Mutter von Zwillingen, die sie gegen den Widerstand von Mutter und Ehemann etwas verrückt, aber hoffnungsvoll Jubilee und Philadelphia nennt. Doch in ihrem ersten feuchtkalten Winter sterben die Babys qualvoll an einer Lungenentzündung, man könnte auch sagen an den elenden Verhältnissen. Das ist der Beginn der starken und tragischen Saga von Hattie, ihren elf Kindern und einer Enkelin, eine Geschichte, die bis in die 1980er-Jahre reicht.

Ein neues Jerusalem

Zu Hause in Georgia hatte der Prediger in Hatties Kirche den Norden als «neues Jerusalem» gepriesen und dann gleich selbst den Exodus gewagt, den Auszug aus der Knechtschaft, der in den USA des 20. Jahrhunderts eine grosse Binnenwanderung der Schwarzen von der rassistischen Feudalgesellschaft im Süden der USA in Richtung Norden und Westen auslöste und das soziale Gefüge der USA nachhaltig veränderte.

Wie Millionen andere Familien war dann auch Hatties Mutter mit ihren Kindern mehr als tausend Kilometer weit zusammengepfercht in zunächst nach Rassen getrennten Eisenbahnwaggons ins Ungewisse gefahren. Sie wollten möglichst weit weg von der Apartheid des Südens, wo die gesellschaftliche Position der Negroes, ihre beruflichen Möglichkeiten und oft sogar ihr nacktes Überleben immer noch von den Launen der Weissen abhängig waren. Wie andere Flüchtlinge unserer Zeit suchten sie mehr Sicherheit, Freiheit und Gerechtigkeit und hofften auf ein besseres Leben für sich und ihre Kinder. Rechtlich stand diesen BinnenmigrantInnen der Weg in den Norden und Westen frei, schliesslich waren sie US-AmerikanerInnen. Willkommen waren die NeuzuzügerInnen deshalb noch lange nicht. Und anders als die ImmigrantInnen aus Italien oder Irland verschwanden sie auch nicht ohne Weiteres im berühmten Melting Pot, dem Schmelztiegel der Nation.

Anfänglich war die sogenannte Great Migration (Grosse Migration) eine fast schon fieberhafte Massenbewegung. «Sie zogen los, als ob sie einem Fluch entkommen müssten», kommentierte der schwarze Journalist Emmet Scott, dessen Eltern die Sklaverei noch am eigenen Leib erfahren hatten, die Flucht aus dem Süden zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Und der bekannte US-amerikanische Schriftsteller Richard Wright (1908–1960) schrieb über seinen eigenen Umzug 1927 aus Mississippi nach Chicago: «Ich verliess den Süden und warf mich ins Unbekannte … Ich nahm ein Stück Süden mit und pflanzte es in fremde Erde ein, um zu sehen, ob es anders wachsen kann, ob es den neuen kühlen Regen aufsaugt, sich in ungewohnten Winden biegt, auf die Wärme anderer Sonnen anspricht und vielleicht zum Blühen kommt.»

Erst 1970, als auch die Südstaaten aufgrund neu erkämpfter Bürgerrechtsgesetze ihre Apartheidschilder abmontieren mussten, endete die sogenannte Great Migration. Zu diesem Zeitpunkt hatte rund die Hälfte aller AfroamerikanerInnen den Süden der USA verlassen. Seither gibt es sogar einen Trend zur Rückwanderung (gut gebildeter) AfroamerikanerInnen in den Süden. Die Zeiten haben sich eben doch geändert.

Die Sicht der Enkelin

«Wir können die Zeit vor den Bürgerrechten mit der Empfindsamkeit der Nach-Bürgerrechtsgeneration wahrnehmen», sagte die 1971 geborene Ayana Mathis in einem Gespräch mit dem US-Radiosender National Public Radio über ihren Roman. Dazu bemerkte eine Hörerin, ihre eigene afroamerikanische Grossmutter aus dem Süden habe kaum über die Vergangenheit gesprochen, weil sie ihre Kinder und deren neues Leben im Norden nicht mit ihrem Hass belasten wollte. Ayana Mathis, eine Enkelin der traumatischen Zeit, antwortete: «Ich habe heute die Freiheit, meine Figuren nicht übermässig rassifiziert, sondern in ihrer ganzen Menschlichkeit zu zeigen. Und diese Menschlichkeit ist nun mal eine gemischte Sache, neben Glücksmomenten gibt es auch Hass und Ängste und Versagen. Darin sind wir uns alle, Schwarze wie Weisse, ähnlich.»

Mathis’ Bezug auf die universelle Menschlichkeit ist keine billige Versöhnungsmasche. Die Porträts in «Zwölf Leben» sind literarisch überzeugend – sie geben die Möglichkeiten und auch die Grenzen, die Taten und die Träume von Menschen in einer ganz bestimmten historischen Situation, in bestimmten sozialen Verhältnissen, als Männer oder Frauen, Väter oder Mütter, als Söhne oder Töchter wieder. Und sie sprechen doch die Möglichkeiten und Grenzen, Taten und Träume von uns allen an. Die einflussreiche afroamerikanische US-Talkmasterin Oprah Winfrey verglich Ayana Mathis mit der Nobelpreisträgerin Toni Morrison und katapultierte den Erstlingsroman mit ihrer begeisterten Empfehlung in die US-Bestsellerlisten. Auch wenn die zuweilen etwas umständliche und ungenaue Übersetzung von Susanne Höbel der eigenwilligen und starken Sprache von Mathis nicht ganz gerecht wird, bleibt «Zwölf Leben» eine mitreissende Familiensaga – und ein spannendes Stück US-Geschichte.

Ambivalenter Glauben

Der englische Titel, «The Twelve Tribes of Hattie», bezieht sich auf den im fünften Buch Moses reflektierten Zug der Israeliten durch die Wüste. Eigentlich schade, dass diese biblisch-archaische Dimension mit der knappen deutschen Überschrift «Zwölf Leben» verloren geht. Denn für Hattie und ihre Stämme spielt der Glaube eine grosse, wenn auch ambivalente Rolle. Allein die Religion bot den SklavInnen und ihren Nachkommen ein alternatives Wertesystem an, in dem auch sie als vollwertige Menschen wahrgenommen wurden und auf ein besseres Leben hoffen durften – wenigstens nach dem Tod. Aber Religion, das erfährt die Stammesführerin Hattie, kann auch neue und permanente Unfreiheit bedeuten.

In einer der letzten Szenen von Mathis’ Roman sieht sich Hattie, die eine starke, aber auch äusserst harte alte Frau geworden ist, mit einer neuen «Versklavung» ihrer Geborgenheit suchenden Enkelin – diesmal durch religiösen Fundamentalismus – konfrontiert: «Hattie wusste nicht, wie sie ihre Enkelin retten sollte. Sie fühlte sich so überfordert und unvorbereitet wie damals mit siebzehn als junge Mutter. Da sind wir also, sechzig Jahre weg von Georgia, dachte sie, eine neue Generation ist geboren worden, und immer noch sind da die gleiche Wunde und der gleiche Schmerz. Ich kann das nicht zulassen. Sie schüttelte den Kopf. Ich kann es nicht zulassen.»

Hattie ist bereit, für die geistige Freiheit ihres Grosskinds im hohen Alter auch noch die Geborgenheit der Kirche zu opfern. Und so endet der Roman: «Hattie legte ihren Arm um Sala und zog sie zu sich; sie klopfte der Enkelin grob auf den Rücken, ungeübt wie sie war in Sachen Zärtlichkeit.» Als Bilanz der Grossen Migration umfasst diese Geste Sieg und Niederlage. Es ist viel und wenig zugleich.

Ayana Mathis: Zwölf Leben. dtv Verlag. Frankfurt am Main 2014. Roman. 368 Seiten. 28 Franken

Isabel Wilkerson: The Warmth of Other Suns. The Epic Story of America’s Great Migration. Random House. New York 2010. 640 Seiten. 20 Franken

Rassismus in den USA : Eine zweigeteilte Gesellschaft

Mit der Binnenmigration in den USA beschäftigt sich auch Isabel Wilkerson in ihrem Sachbuch «The Warmth of Other Suns» (Die Wärme anderer Sonnen). Die 1961 geborene afroamerikanische Pulitzerpreisträgerin hat mit über tausend Frauen und Männern gesprochen, die aus dem Süden der USA ausgewandert sind. Ihr Fazit: Die MigrantInnen haben mit ihrer hartnäckigen Suche nach einem besseren Leben vor allem auch sich selbst verändert. «Es war der erste Schritt, den die geknechtete Klasse tat, ohne um Erlaubnis zu fragen», schreibt Wilkerson.

Eine der drei Hauptfiguren in Wilkersons Buch, der schwarze Arzt Robert Pershing, träumt davon, endlich «ein Bürger der Vereinigten Staaten zu sein, so wie es in seinem Pass stand». Zwar erreichte Pershing an der Westküste einen gewissen Erfolg, wurde etwa Leibarzt des bekannten Jazzmusikers Ray Charles. Doch wurde er auch ausserhalb der Südstaaten aufgrund seiner Hautfarbe schikaniert. Von HausbesitzerInnen, die ihre Wohngegend rein weiss erhalten wollten. Von weissen ÄrztInnen, die die Konkurrenz fürchteten. Und sogar von dunkelhäutigen PatientInnen, die sich weigerten, von ihresgleichen untersucht und behandelt zu werden.

Noch schwieriger gestaltete sich die Neuansiedlung im Norden für die beiden andern von Wilkerson porträtierten MigrantInnen: Die ehemalige Landarbeiterin Ida Mae wurde als Hausangestellte in Chicago schlecht entlöhnt und wie selbstverständlich sexuell belästigt. Der klassenkämpferische George Starling, der nach New York zog, fand eine Stelle als Zugbegleiter im schnell wachsenden Eisenbahnverkehr, doch sein Traum von einer weitergehenden Bildung erfüllte sich nicht.

Während im Süden sogar die Verkehrsregeln klar zum Vorteil der Herrenrasse umgeschrieben worden waren – Weiss hat immer Vortritt! –, mussten sich die AfroamerikanerInnen im Norden mit «weicher» Diskriminierung auseinandersetzen. So gab es in den Schulzimmern von Chicago oder New York zwar keine offizielle Rassentrennung, aber doch eine klare, wenn auch für die NeuzuzügerInnen undurchsichtige Rassenhierarchie. Afroamerikanische Kinder mussten im Klassenzimmer entweder zuvorderst oder zuhinterst sitzen. Oder sie wurden neben weisse SchülerInnen platziert, um diese zu bestrafen.

Isabel Wilkerson schreibt klar und mit unerbittlichen Details über die zweigeteilte US-Gesellschaft. Doch sie sagt auch: «Die Vergangenheit ist nur etwas wert, wenn sie hilft, die Gegenwart zu verstehen; ein grossmütiges Verständnis von beiden Rassen ist der erste Schritt zur Lösung der Probleme.»
Lotta Suter