35 Jahre «Hirscheneck»: Hausgeister statt Chefs

Nr. 17 –

Das selbstverwaltete Basler Lokal Hirscheneck feiert Geburtstag. Anekdoten aus einer bewegten Geschichte.

Alles begann am 1. Mai 1979 mit einer Idee: Eine Handvoll junger Menschen wollte aus der Hierarchie und Fremdbestimmung der Arbeitswelt ausbrechen und eine Beiz gründen. Auf Spaziergängen durch die Stadt suchte man nach einem Ort und fand mitten in Kleinbasel eine heruntergekommene Knelle mit dem Namen «Hirscheneck». Ganze 1,3 Millionen Franken kostete die Liegenschaft, doch die Gruppe wuchs schnell. Schliesslich trieb man 150 000 Franken in Partizipationsscheinen und Darlehen auf, verhandelte mit der Bank, und schon war das Haus gekauft.

35 Jahre später gibt es die Beiz noch immer. Und das «Hirschi», wie es liebevoll genannt wird, ist inzwischen eine Basler Institution. Nicht nur die heutige SP-Ständerätin Anita Fetz hat hier einst Bier gezapft. Über 300 Leute haben im «Hirschi» schon gearbeitet, erzählen Saali und Maren vom Kollektiv an einem Tisch draussen vor der Beiz, während drinnen am Jassturnier gerade «gschobe» und «gwiese» wird. Die anderen MieterInnen der Liegenschaft kamen und gingen: Läden, JuristInnen, Frauengruppen, Ateliers und Wohnungen gab und gibt es am Lindenberg 23. Geblieben sind die Beiz und der Konzertkeller, beide kommen ohne Subventionen aus. Lediglich bei zwei Umbauten gab es staatliche Unterstützung.

Bitte keine «Hippie-Musik»

Saali und Maren erzählen Anekdoten aus der 35-jährigen Geschichte des Hauses: Zu Beginn der neunziger Jahre habe das «Hirschi» etwa ein Demotape einer unbekannten Band aus Seattle erhalten. Man hörte sich das Band an und fand, es klinge zu sehr nach «Hippie-Musik» – und sagte der Band ab. Wenige Jahre später sollte sie jeder Teenager kennen. Ihr Name: Nirvana.

Bereits bekannt war die deutsche Punkband Die Ärzte, als sie im «Hirschi» einkehrte. Ein Bandmitglied habe mit den Fingern geschnippt, um Saalis Aufmerksamkeit zu erhaschen. «Ich hab euch gesehen. Ich weiss, wer ihr seid, aber so läuft das hier nicht», habe er jenen zurechtgewiesen. Nach dem Essen hätten die Rockstars gesagt, sie kämen gerne hierher, weil sie normal behandelt würden. Doch das gilt nicht nur für Die Ärzte. Im «Hirschi» kann man sitzen, selbst wenn man kein Geld hat – auch nach 35 Jahren herrscht hier kein Konsumzwang, und es gibt keine Chefs. Beschlüsse werden an der Kollektivsitzung gefällt, die alle zwei Wochen stattfindet. Alle MitarbeiterInnen erhalten denselben GAV-Lohn von zirka neunzehn Franken pro Stunde. In den Gründerjahren waren es noch fünf Franken, wie der Broschüre zum 25-Jahr-Jubiläum zu entnehmen ist. Dort liest man auch, wie wegen der guten Küche Gäste mit «schicken Wagen» vorfuhren. Heute kommen Reiche von der Uhren- und Schmuckmesse ins «Hirschi»: zum Beispiel ein feiner Herr, der sich mit drei Damen an einem sonnigen Nachmittag vor der Beiz niederliess. Am Nachbartisch sassen drei junge Punks und tranken Sirup. Offensichtlich störten ihn die Punks, und er wedelte mit der Hundertfrankennote nach der Bedienung. «In zehn Minuten ist der Tisch frei», habe er gesagt – worauf er und nicht die Punks weggeschickt worden seien, wie sich Saali erinnert.

Als alle auf die Tische klopften

Das «Hirscheneck» könne selbst auf die Hilfe guter Geister zählen, erzählt Maren. Die habe ein Schamane einer Band aus Native Americans hier aufgespürt. Sollten sich die Geister eines Tages doch gegen die Beiz wenden, ist man vorbereitet: Der Schamane habe eine Essenz zu deren Vertreibung zurückgelassen. Wenn nicht Geister, sondern wieder einmal Rechte das «Hirschi» angriffen, zeige sich jeweils die Solidarität der Gäste. Auch an einem Fasnachtsabend kann es Stress geben: Einmal pöbelten drei Männer herum und wurden aufgefordert, das Lokal zu verlassen. Aber sie gingen erst, als alle anderen Gäste in der vollen Beiz auf die Tische klopften und «Use!» skandierten. Dass die Gäste sich einmischen, war immer schon der Anspruch im «Hirschi».

Der jüngste Angriff aufs «Hirscheneck» kam von Christoph Blochers Sprachrohr «Basler Zeitung», die sich über ein unbewilligtes Transparent und eine Fahne an der Hauswand der Beiz enervierte. Beides hängt immer noch und wird wohl auch nicht abgehängt.

Am 1. Mai feiert das «Hirscheneck» – unter anderem mit der wiedergeborenen Punkband Baby Jail – auf dem Theodorskirchplatz ein grosses Geburtstagsfest.