Faire Kleidung: «Gibts dagegen nicht Gesetze?»

Nr. 17 –

Was passiert, wenn sich sechzehnjährige Mädchen mit den Arbeitsbedingungen von KleidernäherInnen im Süden beschäftigen: Ein Schulbesuch in Affoltern am Albis.

Und jetzt wird auch noch selbst genäht: Schülerinnen der Oberstufe Ennetgraben in Affoltern am Albis während der Projektwoche zum Thema Kleidung.

Beatrice Aepplis Schülerinnen wirken erleichtert, als um 15.20 Uhr die Schulglocke erklingt. Gut gelaunt, aber nachdenklich verschwinden sie in die Frühlingssonne, bald ist Shoppen angesagt. Zur Freude der Mädchen, die gerade ihr letztes Jahr an der Oberstufe Ennetgraben in Affoltern am Albis absolvieren. Künftig sollen sie bewusster durch die Regale streifen, hofft Handarbeitslehrerin Aeppli, bei der die achtzehn Mädchen ihre Projektwoche zum Thema Kleidung verbringen. Gewählt haben sie den Kurs freiwillig. Bei Schulbeginn ein paar Stunden früher ist davon allerdings noch wenig zu spüren; lustlos schlurfen sie ins Zimmer, runzeln die Stirn – «Hä?»

Unbequeme Fragen und Antworten

Im Schulzimmer wartet nicht wie angenommen Frau Aeppli, sondern drei Männer. Sie sind Mitglieder der Erklärung von Bern (EvB) und leiten ehrenamtlich Workshops zu Fairtrade, Bekleidung, Elektronik, Nahrung oder Schokolade, primär in der Oberstufe. Mit Frontalunterricht hat das wenig zu tun, wie auch die Mädchen in Affoltern bald merken. Eben erst hineingeplumpst, müssen sie ihre Stühle gleich wieder verlassen. Es hagelt Fragen, sie sollen sich positionieren: «Wie lange tragt ihr euer Shirt?», «Wie viel gebt ihr monatlich für Klamotten aus?», «Wo spart ihr lieber: beim Essen, bei der Kleidung oder bei den Freizeitaktivitäten?» Etwas widerwillig setzen sie sich in Bewegung. «Komische Fragen», murmelt ein Mädchen und stützt sich auf seine Nachbarin.

Erst jetzt erfahren sie, mit wem sie es zu tun haben: Fahim Abed (54) aus Zofingen ist Wirtschaftslehrer und zum ersten Mal auf Schulbesuch, Dominik Holl (29) ist frischgebackener Sportlehrer aus Luzern, der ehemalige Lehrer Jürg Keller (72) wohnt in Oerlingen und hat das Schulprojekt der EvB vor zehn Jahren ins Leben gerufen. Er ist es auch, der den Mädchen das erste Lächeln des Tages entlockt: Beim Kurzfilm dürfen sie sich zurücklehnen – vermeintlich, denn was lustig begonnen hatte, endet unbequem: «Lieber nackt als in einer Uniform, die unter ausbeuterischen Bedingungen hergestellt wurde», lautet die Botschaft der halb nackten Angestellten im Clip.

Das irritiert. Was heisst «ausbeuterisch»? Und wieso «faire» Uniformen? In einfachen Worten erklärt Keller den Mädchen die Zusammenhänge globaler Märkte, formuliert Probleme und skizziert Folgen. Ohne Moralkeule bringt er die Klasse auf die richtige Spur, sanft und routiniert, wie es wohl nur ein ehemaliger Lehrer kann. Er berichtet von Preisdumping, Kinderarbeit und Umweltschäden, beobachtet die Reaktionen, hakt nach und fragt nach Einschätzungen. Langsam kommt Leben in die montäglichen Mienen. Zeit, die eigenen Kleider unter die Lupe zu nehmen.

Der Grossteil für die Modefirma

«Kambodscha», sagt eine Dunkelhaarige und fischt nach dem Etikett ihrer Nachbarin. «Hier steht ‹Made in Bangladesh›.» – «Türkei», ruft es von gegenüber. Rasch ist auf der Weltkarte alles gefunden. In Sachen Preiszusammensetzung sind sich die Mädchen nicht mehr so sicher. Was verdienen Rohstoffhändler, Näherin oder Modefirma? Prompt liegen sie verkehrt: Der grösste Brocken, 60 bis 65 Prozent, geht an den Detailhändler, nicht an die Näherin. Sie bekommt nur 0,5 bis 3 Prozent des Kaufpreises, wenige Rappen, wie Keller vorrechnet. Damit hat er die Mädchen. Wirtschaftliche Zusammenhänge mögen abstrakt sein, Geld hingegen ist konkret. Menschenleben auch; immer grösser werden die Augen, als Dominik Holl von Bränden und baufälligen Fabriken berichtet. Und von der eingestürzten Fabrik in Dhaka, Bangladesch, wo vor einem Jahr über 1100 Menschen ums Leben kamen.

Entsprechend engagiert ist das Rollenspiel: Die Mädchen sollen in die Haut einer Näherin schlüpfen und für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen. Ihnen gegenüber sitzt der Fabrikchef, gespielt von Keller, der sämtliche Vorschläge mit schlagkräftigen, meist finanziellen Argumenten abweist. Immer deutlicher werden die Probleme der Altersgenossinnen an den Nähmaschinen. In Affoltern wechseln die Mädchen demnächst ans Gymnasium, haben eine KV-Lehrstelle oder sogar einen Platz an einer englischen Schule, wie eines der Mädchen berichtet. Dass sie als Sechzehnjährige in China bereits jahrelange Arbeitserfahrung haben könnte, kann sie sich genauso wenig vorstellen wie eine Achtzigstundenwoche. «Gibts dagegen nicht Gesetze?», fragen einige. Ihnen ist klar: Näherinnen müssen sich zusammentun. «Gewerkschaft heisst das, oder?»

Für die Schülerinnen in Affoltern ist vieles neu an diesem Montag. Manches ist kompliziert, aber sie haben erkannt, dass viele leiden für den Wohlstand weniger. Besonders ihre Lieblinge – Zebra, Chicorée, Orsay oder Tally Weijl – produzieren unter menschenunwürdigen Umständen. «Verdammt krass», ist die häufigste Reaktion, dennoch scheint es für einen Augenblick aussichtslos. «Wenns ja schon produziert ist, kann ichs auch kaufen», finden zwei Schülerinnen, «irgendjemand tuts sowieso.» Doch Keller, Holl und Abed wollen die Klasse nicht hilflos hinterlassen. Sie präsentieren faire Ansätze, berichten von Kooperativen, Alternativen und Initiativen, verteilen eine EvB-Broschüre mit Bewertungen der bedeutendsten Schweizer Firmen.

«Top 10 und Flop 10»

Am wichtigsten sei die Aufklärung, sagen sie. Die Mädchen sollen deshalb zum Schluss eine eigene Aktion planen. Manche basteln Flyer, andere gehen in der Umgebung auf Aufklärungstour. Eine dritte Gruppe gestaltet ein Plakat: «Top 10 und Flop 10» ihrer Lieblingsgeschäfte. Bei der Schlusspräsentation ist nichts mehr zu spüren von der anfänglichen Unlust, keine faulen Sprüche, keine Tuschelei. Es scheint, als hätte sich etwas getan in den Köpfen der jungen Frauen. Beatrice Aeppli will dafür sorgen, dass es auch so bleibt, und hat deshalb etwas Besonderes geplant für die verbleibende Woche: «Ein paar Lektionen Fliessbandarbeit. Keine Schikane, sondern ein Stück Realität.»