Japan: Die Tücken des Bevölkerungsrückgangs

Nr. 17 –

Japans Bevölkerung nimmt ab. Das stellt die Gesellschaft vor grosse Herausforderungen. Die Politik reagiert nur zögerlich.

Innerhalb der japanischen Regierung wird zurzeit darüber gesprochen, die Hürden für die Zuwanderung zu senken. Der Anteil an AusländerInnen beträgt heute magere zwei Prozent. 2012 führte Japan zwar ein Punktesystem für zuwanderungswillige Arbeitskräfte ein, ähnlich wie dies bereits Kanada und die USA praktizieren. Ein grosser Zustrom von Fachkräften blieb bislang jedoch aus, da diesen die sprachlichen und kulturellen Barrieren offenbar zu hoch sind. Für unqualifizierte AusländerInnen bleiben Japans Tore – zumindest offiziell – verschlossen. MigrantInnen werden jedoch illegal oder unter dem Deckmantel angeblicher Praktika beschäftigt.

Inzwischen macht sich in Wirtschaftskreisen Unmut über die nur zögerliche Öffnung des Landes breit. Viele Firmen sind nicht mehr bereit, auf junge und billige Arbeitskräfte zu verzichten. In der Baubranche, die durch staatliche Konjunkturprogramme gefördert wird, herrscht bereits ein akuter Arbeitskräftemangel, der sich bis zu den Olympischen Sommerspielen 2020 in Tokio noch verschlimmern wird.

Vorbehalte gegen AusländerInnen

Doch der Spielraum von Ministerpräsident Shinzo Abe für Zuwanderungsreformen ist klein. Zu seiner Klientel gehören nämlich neben Geschäftsleuten und UnternehmerInnen auch konservative Kreise, die die Zuwanderungsdebatte am liebsten abwürgen würden. Überhaupt ist ein tiefes Unbehagen in der japanischen Gesellschaft spürbar. Viele JapanerInnen zeigen sich seit Jahrzehnten ängstlich und misstrauisch, wenn es um die Zunahme der ImmigrantInnen geht. Die Zentralregierung hat jedoch bisher kaum Interesse gezeigt, dieser Stimmung entgegenzuwirken. Es gibt zu wenige Kampagnen, die Migration als Chance und möglichen Lösungsansatz für die demografischen Probleme präsentieren. Vielmehr haben die zahlreichen Berichte über «Ausländerkriminalität» in den Medien das Klima der Unsicherheit zusätzlich verschärft.

Befürchtet wird aber auch, eine stärkere Zuwanderung könnte die nationale Identität gefährden – in Japan, das während Jahrhunderten isoliert war, ein sensibles Thema. Das konstruierte japanische Selbstbild, das den Inselstaat kulturell vor allem von den USA abgrenzen soll, wird immer wieder für Abschottungszwecke instrumentalisiert. Während der wirtschaftlichen Boomjahre war es die angeblich kulturell homogene Mittelstandsnation, die man bedroht sah. Die Existenz der Minderheiten – etwa der Buraku oder der KoreanerInnen – und ihre Diskriminierung wurden dabei ausgeblendet. Auch heute noch wird der Mythos der Homogenität und Einzigartigkeit am Leben erhalten, etwa in der schulischen Erziehung. Vielfalt als Bereicherung des gesellschaftlichen Lebens komme dort kaum zur Sprache, sagt Yasunori Fukuoka, emeritierter Professor an der Universität Saitama.

Mit dem Auseinanderbrechen der Mittelstandsgesellschaft infolge der Arbeitsmarktreformen um die Jahrtausendwende zeichnete sich jedoch eine neue Argumentationslinie ab: Die JapanerInnen müssten die neu entstandene soziale Kluft und Prekarität zuerst geistig verarbeiten und – wenn möglich – überwinden. Eine starke Zuwanderung würde die heutigen Zustände bloss zementieren oder Japan gar vor eine Zerreissprobe stellen.

Eine neue Definition des Alters

Einer, der trotz solcher Bedenken fest an die Vorteile eines interkulturellen Zusammenlebens glaubt, ist Keizo Yamawaki, Professor an der Meiji-Universtität und Spezialist für Integrationspolitik. Diversität könne nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch innerhalb der verkrusteten japanischen Gesellschaft innovativ wirken und neue Wege aufzeigen, meint er. Doch zuerst müssten die nötigen Voraussetzungen geschaffen werden. Immer noch sind die Rechte der AusländerInnen gesetzlich nicht verankert und offene Diskriminierungen an der Tagesordnung.

Unter den japanischen Intellektuellen gehört Yamawaki mit seiner offenen Haltung gegenüber Migration zur Minderheit. In Japan glaubt fast niemand, dass der Bevölkerungsrückgang – selbst durch grösste Anstrengungen – zu verhindern ist. Er könnte laut dem Nationalen Institut für Bevölkerung und soziale Sicherheitsforschung (IPSS) in den nächsten fünfzig Jahren bis zu dreissig Prozent ausmachen. Ein Aufhalten dieser Entwicklung sei illusorisch, meint Reiko Hayashi, Abteilungsleiterin beim IPSS. Vielmehr müssten die Vorbereitungen – etwa in den Bereichen Stadtplanung und Altersversorgung – intensiviert werden. Die Stadtbevölkerung wird nicht gleichmässig schrumpfen, was eine Anpassung der Infrastruktur erforderlich macht. So werden beispielsweise immer mehr alte Menschen in den Vorstädten leben, wo es jedoch nur wenige Spitäler gibt. Bei der Diskussion über die Bezahlbarkeit der Rente fordert Hayashi mehr Kreativität und eine Neudefinition von «alt». Als alt könnten beispielsweise nur noch die ältesten fünf Prozent gelten.

Die aktuellen Entwicklungen werden allerdings nicht nur als Herausforderung wahrgenommen. Viele sehen im demografischen Wandel eine Chance, dem Bevölkerungsdruck – Japan hat eine weit höhere Bevölkerungsdichte als etwa Deutschland – endlich zu entkommen.