Portugal: Der Patron kommt zurück auf die Kooperative

Nr. 17 –

Vor vierzig Jahren beendeten linke Militärs die Diktatur in Portugal. In der folgenden Revolution wurde Grossgrundbesitz enteignet – und später wieder zurückgegeben. Die Geschichte des heutigen Biohofs Freixo do Meio.

«Aufgeben kann ich nicht. Was würde dann aus den Leuten? Alfredo Cunhal, Besitzer des Biohofs Freixo do Meio, mit einer seiner Angestellten.

An Freixo do Meio scheint die Zeit einfach vorübergezogen zu sein. Wie zu Grossmutters Zeiten hämmert es aus der Schmiede, Hühner und Gänse laufen über den Hof, der Gutsherr grüsst morgens seine MitarbeiterInnen mit Handschlag. Gerade so, als hätte es in Portugal nie eine Revolution gegeben und auch keine Landreform.

Früher gehörten die Cunhals zu den GrossgrundbesitzerInnen, aber nach der Revolution wurden sie enteignet. Doch Alfredo Cunhal (48), der Enkel des einstigen Patrons, erhielt den Hof 1992 zurück. Heute ist er Vorsitzender einer Stiftung, die den Besitz als Biolandgut betreibt. Von den ehemals achtzig ArbeiterInnen sind sechzehn geblieben, weitere sieben sind selbstständige SubunternehmerInnen des Betriebs. Der Jahrestag der Revolution ist Alfredos Geburtstag. Immer am 25. April versammeln sich die Alternativszene und NachbarbäuerInnen auf seinem Hof und plaudern über vergangene Zeiten.

«An jeder Ecke ein Freund. In jedem Gesicht Gleichheit. Es ist das Volk, das bestimmt», sang der Dichter des Widerstands Zeca Afonso im unter der Diktatur verbotenen Grandola-Lied. Die Zeilen sprachen den rechtlosen LandarbeiterInnen aus dem Herzen. Zehntausende kamen in die Foltergefängnisse der Geheimpolizei. Portugal hatte vor 1974 die höchste Kindersterblichkeit in Europa. JedeR Dritte war AnalphabetIn. Die jungen Männer des Landes kämpften und starben in Kolonialkriegen, vier Jahre dauerte zuletzt der Militärdienst. Wer auf Freixo do Meio arbeitete, hatte noch Glück: Der alte Alfredo Cunhal galt als relativ gütiger Patron. Familien wurden nicht getrennt, Kriegsversehrte wieder eingestellt. Als erster Gutsherr der Gegend schaffte er den Zwölfstundentag ab.

Als das Grandola-Lied am 24. April 1974 kurz nach Mitternacht im Radiosender Renascença erklang, waren die Offiziere der linken «Bewegung der Streitkräfte» schon auf dem Weg in die Hauptstadt: Die «Operation Ende des Regimes» hatte begonnen. Militärs besetzten Ministerien, Radiosender und den Flughafen. Menschenmassen jubelten am Strassenrand, reichten den Soldaten Äpfel, Brot und rote Nelken. Der Putsch erhielt seine Legitimation vom Volk, die Blumen gaben der Revolution den Namen. Am späten Nachmittag trat Ministerpräsident Marcelo Caetano zurück. Nur vor der Zentrale der Geheimpolizei wurde geschossen, vier Menschen starben. 48 Jahre Diktatur waren vorbei.

Tanz auf den Strassen

Sechs Tage später feierten eine halbe Million Menschen auf den Strassen von Lissabon zum ersten Mal den 1. Mai. Alles war auf den Beinen. Lastwagen voller ArbeiterInnen fuhren aus den Vororten in die Stadt. Aus Bussen und Bahnen quollen rote Fahnen, Menschen tanzten auf der Strasse. Die Gefängnisse standen offen, die politischen Gefangenen waren frei. Dissidentinnen, Wehrdienstflüchtlinge, sozialistische Führer kehrten in die Heimat zurück, darunter ein entfernter Verwandter des Gutsbesitzers von Freixo do Meio: Álvaro Cunhal, das schwarze Schaf der Familie, Chef der Kommunistischen Partei Portugals. Nach elf Jahren im Gefängnis war ihm 1960 eine spektakuläre Flucht gelungen, er ging nach Moskau ins Exil. Nun zog er gemeinsam mit dem SozialistInnenführer Mario Soares ins Stadion ein, die Menschenmassen skandierten: «O povo unido jamais será vencido!» – Ein einig Volk wird nie besiegt!

Reformen statt Revolution

Portugal schien sich zu radikalisieren. Firmen und Banken wurden verstaatlicht. Studentinnen und Professoren, eben noch von ihren Direktorinnen bespitzelt und verfolgt, setzten diese kurzerhand ab und organisierten den Unterricht selbst. Gedanken, die ein halbes Jahrhundert zensiert und verboten gewesen waren, explodierten wie ein geistiges Feuerwerk. Linke Gruppen hinterliessen ihre Ansichten auf allen Wänden. Bürgerkomitees übernahmen die Feuerwehr, Strassenreparaturen und andere vernachlässigte Aufgaben. ArbeiterInnen vertrieben repressive FabrikbesitzerInnen. Für kurze Zeit wurde Portugal zum Mekka der Jugend Europas, die vom Sozialismus träumte.

Im Zuge einer Agrarreform nach sowjetischem Vorbild wurde Landbesitz verstaatlicht. Während Grossvater Cunhal enteignet wurde, lebte Enkel Alfredo mit seinen Eltern in General Francisco Francos Spanien, wo viele NutzniesserInnen der Diktatur Zuflucht gefunden hatten. Alfredo Cunhal erinnert sich: «Unsere ehemaligen Arbeiter übernahmen den Hof und gründeten eine Kooperative. Die Felder wurden gemeinsam bewirtschaftet, die Erträge kollektiv vermarktet.»

Doch dann blieb die Unterstützung der Regierung für die in der Landreform entstandenen kollektiven Betriebe aus. Der Ost-West-Konflikt trieb einen Keil auch in die Einheit des portugiesischen Volks. Die Sowjetunion unterstützte die Kommunistische Partei Portugals mit ihren AnhängerInnen im Süden. Im Norden des Landes rollte eine gut geölte antikommunistische Propagandamaschine. Viele vermuten heute, dass sie von den USA finanziert und organisiert wurde. Die regierenden SozialistInnen wurden zunehmend von den SozialdemokratInnen Europas geprägt: vorsichtige Reform statt Revolution.

Der Kommunist Álvaro Cunhal, bis 1975 noch einflussreicher «Minister ohne Geschäftsbereich», hatte bald nur noch im traditionell linken Alentejo Rückhalt. Die portugiesische Gesellschaft kippte zurück in die Bürgerlichkeit. Die Landreform starb schleichend. Den Kooperativen wurden nach und nach steuerliche Vorteile und damit die Arbeitsgrundlage entzogen. Nur wenige überlebten. Freixo do Meio überlebte nicht. Alfredo Cunhal, der Enkel des enteigneten Gutsbesitzers, weiss auch warum: «In unserer Kooperative gab es brillante Köpfe. Doch sie standen vor Managementaufgaben, auf die sie nicht vorbereitet worden waren.»

An vielen Orten kam es bei der Rückgabe von Land zu Polizeieinsätzen und Prügeleien. Auf Freixo do Meio verlief sie friedlich. «Da der Grossvater zu alt war, bat mich meine Mutter einzuspringen», erzählt Alfredo. «Für sie waren die ehemaligen Arbeiter immer noch Schutzbefohlene, um die sich nun niemand mehr kümmerte.»

Die Familie fand den Hof leer und verwahrlost vor. Wie sollte sie da einen Neuaufbau schaffen? Cunhal, damals 25, hörte sich um. «Die Alten sagten, dass in ihrer Kindheit alles im Dorf produziert wurde, was sie zum Leben brauchten. Nur Salz und Eisen sei eingeführt worden.» Mit der Landreform hörte das auf. «In Bezug auf die Landwirtschaft verfolgten Diktatur, Sozialismus und Kapitalismus dieselbe Strategie: Zentralisierung und Spezialisierung – zerstörerisch für die Natur und fatal für die ländliche Entwicklung. Wir wollten einen neuen Weg gehen.»

Das neue schwarze Schaf

Cunhal suchte das Gespräch mit den früheren Mitgliedern der Kooperative und integrierte sie in die Hofleitung. Vorbild dabei war der «montado», eine traditionelle Bewirtschaftungsform der für den Süden Portugals typischen Korkeichenweiden. Der Hof erzeugt heute über 300 Bioprodukte in kleinen Mengen, die von selbstständigen Handwerksbetrieben auf dem Hof weiterverarbeitet werden. Es ist ein Versuch, die althergebrachte Dorfgemeinschaft wiederzubeleben. «Heute müssen die meisten Bauern direkt an die Industrie liefern», weiss Cunhal. «Das zahlt sich niemals aus.» Zudem würden traditionelle Wertschöpfungsketten zerschlagen. Auf seinem Hof wurden sie wieder zusammengefügt.

Seit mittlerweile 22 Jahren kämpft der Biobauer so gegen die globalisierten Vertriebsstrukturen, die eine vielfältige Landwirtschaft erschweren. Seine Familie zog sich aus dem Geschäft zurück. Es war ihr zu riskant. Alfredo Cunhal aber macht weiter, und so hat die Familie vierzig Jahre nach dem Kommunistenchef Álvaro wieder ein schwarzes Schaf. «Aufgeben kann ich nicht», sagt er. «Was würde dann aus den Leuten?» Er ist eben kein Kommunist, sondern der Enkel seines Grossvaters: Er spricht gerade so wie früher ein «guter» Patron.

Portugal in der Krise : Depression und Aufbruch

Nach dem Beitritt zur EU 1985 wurde Portugal Brüssels Musterschüler und begann als eines der ersten Länder mit Privatisierungen. Landgüter wurden in Pinien- und Eukalyptusmonokulturen umgewandelt, doch Holz kam bald billiger aus den kapitalistisch gewordenen osteuropäischen Staaten. Portugal wurde abhängig von Nahrungsmittelimporten; heute müssen rund achtzig Prozent der Lebensmittel eingeführt werden – und das in dem von Sonne und Regen verwöhnten Land.

Ehrgeizige Grossprojekte der Diktatur wie Staudämme wurden unter der Europäischen Union (EU) weitergeführt: Der 2002 fertiggestellte Alqueva-Damm – der grösste Stausee Europas – überflutete Dörfer und zerstörte einzigartige Biotope. Sein durch die Agrarindustrie Spaniens bereits hoch kontaminiertes Wasser speist heute ein Kanalsystem, dessen mannshohe Betonrohre sich durch den ganzen Alentejo ziehen. Vom Stausee profitieren fast ausschliesslich ausländische Agrarkonzerne, die lieber als PortugiesInnen weitaus billigere ArbeiterInnen aus Nepal, Bulgarien oder Thailand beschäftigen.

«In den neunziger Jahren verschleuderten die Banken grosszügig Kredite», erinnert sich der Geschichtsprofessor Antonio Quaresma. Das Land füllte sich mit neuen Autos, modernen Einfamilienhäusern und ungenutzten Autobahnen. Produktion aber gab es kaum noch im Land. «Wir ahnten, dass wir irgendwann die Rechnung dafür bekommen würden», sagt Quaresma.

Im März 2011 schnappte die Schuldenfalle zu. Die portugiesische Regierung verkroch sich unter dem Rettungsschirm der EU. Die damit verbundene Sparpolitik trifft vor allem die Armen: 600 000  Menschen über 65 Jahre sind unterernährt, Landflucht lässt alte Leute allein auf abgelegenen Höfen zurück. Die Arbeitslosigkeit beträgt 18 Prozent, bei den 15- bis 24-Jährigen sogar 37. Die Auswanderungsrate der Jugend ist wieder so hoch wie zur Zeit der Diktatur. Unzählige können Kredite nicht bedienen, verlassen die auf Pump gebauten Häuser und ziehen in Sozialwohnungen.

Aber nicht alle geben auf: Vermehrt gehen junge Menschen aufs Land, gründen gemeinsam mit der alten Dorfbevölkerung alternative Kooperativen, sogenannte Ajudadas (Projekte gegenseitiger Hilfe) und Landbanken, die LandbesitzerInnen und Landlose zusammenbringen. Es entstehen Konzepte für regionale Autarkie und moderne ökologische Subsistenz.

Seit der Kommunalwahl vom vergangenen Jahr haben im Alentejo wieder die Hälfte der Gemeinden kommunistische BürgermeisterInnen. Am diesjährigen Tag der Revolution werden eine halbe Millionen Menschen in Lissabon erwartet – zu einer Demonstration gegen das Spardiktat vom Internationalen Währungsfonds, von der Europäischen Zentralbank und der Kommission der EU.

Leila Dregger