«Sommer in Brandenburg»: Warten auf den Exodus

Nr. 21 –

In seiner literarischen Spurensuche erforscht Urs Faes das Leben eines jüdischen Liebespaares im nationalsozialistischen Deutschland.

Es wird hart gearbeitet in der Jugendhachschara Ahrensdorf: früh aufstehen, dann ab in die Pflanzungen oder in die Ställe des grossen Gutshofs. Die jungen Männer und Frauen sollen an das Leben in einem Kibbuz gewöhnt werden, denn das ist das Ziel der jüdischen Landwerke: die Auswanderung nach Palästina. Darum steht abends noch das Erlernen einer fremden Sprache, Iwrit, auf dem Plan.

Urs Faes ist durch Fotos von Herbert und Lenni Sonnenfeld, die 1938 das jüdische Leben in Deutschland dokumentierten, auf das Landwerk in Brandenburg gestossen: Sie zeigen den bäuerlichen Alltag der jungen Menschen und ihre Gesichter, in deren Blick Angst und Hoffnung liegen. Bei seiner Spurensuche stiess Faes auf einen Laienhistoriker in Luckenwalde, der schon zu DDR-Zeiten zu forschen begonnen hatte, und er traf in Israel einen Überlebenden, der als Zwölfjähriger aus Breslau in Ahrensdorf eingetroffen und später über Samarkand und Teheran nach Palästina gelangt war. Efraim Jochmann konnte dem Autor noch vom Lebensgefühl in diesem zionistischen Vorbereitungscamp erzählen, wo er sich als Jüngster zwei Jahre lang geborgen fühlte, bevor das Landwerk aufgelöst wurde. Er kannte auch Ron und Lissy, das Liebespaar.

Jüdisches Kommunenleben

Urs Faes schildert anschaulich den Alltag auf dem Gutshof und erzählt die Geschichte dieser Jugendhachschara aus dem Blickwinkel des jungen Ron aus Hamburg, der sich auf den ersten Blick in Lissy, ein Mädchen aus Wien, verliebt. Beide treibt die Sorge um ihre Familie um. Österreich hat sich 1938 Nazideutschland angeschlossen, und nach der Reichspogromnacht weiss Ron, dass seine Schwester und sein Vater in Hamburg äusserst gefährdet leben. Aber auch in Ahrensdorf fühlen sich die jungen JüdInnen bedroht. In der Nacht des 9. November werden die Glasscheiben der Treibhäuser zertrümmert, nach Kriegsbeginn schlachten Einbrecher eine Ziege ab.

Die Liebe zwischen Ron und Lissy wächst trotz der widrigen Umstände. Immer, wenn die Ausreiseerlaubnis für eine kleine Gruppe eintrifft, hoffen sie, zusammen aufbrechen zu können. Vergeblich. Lissy darf ausreisen, und obwohl ihre Eltern nach England geflohen sind, will sie nach Palästina. Ob sie dort je ankam, konnte Faes nicht eruieren. Er macht deutlich, wie sich im Lauf der zwei Jahre die Situation verschärft, wie den jungen Menschen immer klarer wird, dass es ums Überleben geht. Dennoch nimmt sich der Roman auch Zeit für die hellen Momente des Alltags und schildert poetisch die brandenburgische Landschaft im Lauf der Jahreszeiten. In ihrer kargen Freizeit unternehmen Ron und Lissy Spaziergänge ins Umland, wobei sie sich von den Dörfern fernhalten müssen. Man will dort von der jüdischen Kommune nichts wissen.

Nach der Hachschara

Eingeschoben in die romanhaft erzählte Liebesgeschichte finden sich vier ebenfalls sehr spannende «Nacherzählungen», in denen Urs Faes von seiner Spurensuche berichtet und vom weiteren Schicksal der Jugendlichen nach der Auflösung der Hachschara 1941. Nicht alle konnten ihr Ziel erreichen, von manchen ist das schreckliche Ende bekannt, von anderen verliert sich jede Spur. In einem Museum in Tel Aviv entdeckte Faes die Fotos von Herbert und Leni Sonnenfeld. Auf der Rückseite eines Bilds fand der Autor das Motto zu seinem Buch, drei Zeilen aus einem Gedicht von Rose Ausländer: «Ich habe nichts als den Flügel / Ich habe nichts als die Schöpfung / Ich habe nichts als den Moment».

Urs Faes: Sommer in Brandenburg. Suhrkamp Verlag. Berlin 2014. 262 Seiten. Fr. 28.50