Buch: Unter römischen Mutterbrüsten

Nr. 25 –

Es ist diese Stimme im Kopf. Sie ruft: «Franz!» So wie damals, als der kleine Franz noch in der Charlottenburger Mommsenstrasse wohnte, in einem grossen Zimmer mit Wintergarten. Schön war es da. Sehr schön. Wäre da nicht die Stimme gewesen, die viertelstündlich mit der Kirchturmuhr über den Hof schallte: «Franz!» Was das Paradies in eine Hölle verwandelte, insbesondere zur Mittagszeit, wenn die Mutter ruhte und den kleinen Franz ganz nah bei sich hielt. Zu nah. Viel zu nah. So nah, dass er sie nie mehr loswurde.

Hans-Ulrich Treichel legt mit «Frühe Störung» eine bemerkenswerte literarische Studie über eine Bindungspathologie vor. Denn auch als Erwachsener, selbst noch nach dem Tod der Mutter und psychoanalytisch austherapiert, kann sich Franz ihr nicht entziehen, dieser Stimme der Mutter, die, wie es die Psychoanalytikerin Melanie Klein sagen würde, ihren nicht zu Ende geborenen Sohn verfolgt und in unlösbaren Doppelbindungsprozessen an sich fesselt.

Franz, dem bindungsscheuen, mässig erfolgreichen Verfasser von Reiseführern, der nichts weiter als seine Ruhe haben will, bleibt nichts, als den räumlichen Abstand zu vergrössern und damit seine Schuldgefühle, insbesondere, als seine Mutter an Brustkrebs erkrankt. Während sie in der Klinik liegt, sitzt er unter römischen Mutterbrüsten oder weint in Kalkutta um einen alten kranken Mann: Nur zu Mitgefühl und Nähe mit der Mutter ist er nicht fähig.

Treichel, der am Leipziger Literaturinstitut angehende AutorInnen unterrichtet, spielt grandios mit seinem Helden, dessen Fallhöhe so gering ist, dass er komisch daherkommt, aber doch niemals ganz nackt. Alleine schon die Beschreibung, wie der kleine Franz den Mittagsschlaf mit seiner Mutter übersteht oder wie später die Mutter dem erwachsenen Sohn ihre amputierte Brust darbietet, liest sich wie eine psychologische Etüde, fingerfertig ausgeführt und melancholisch gestimmt.

Hans-Ulrich Treichel: Frühe Störung. Suhrkamp Verlag. Berlin 2014. 189 Seiten. Fr. 27.50