Kriegsmaterialexporte: Der Segen der guten Tat?

Nr. 25 –

Die Schweiz lieferte im Ersten Weltkrieg grosse Mengen an Munition und anderem Kriegsmaterial an die kriegführenden Länder. Die Uhren- und Maschinenindustrie wandelte sich bis 1917 zur Kriegsindustrie. Die Geschichtsbücher schweigen bis heute darüber.

Firma Piccard, Pictet & Cie in Genf, zwischen 1910 und 1920. Foto: Schweizerisches Nationalmuseum

Ende Mai 1915 lobte der freisinnige Bundesrat Felix Calonder in einer Rede vor Parteifreunden in Chur das humanitäre Engagement der Schweiz und seine Wirkung nach innen und aussen: «Bereitwillig und kräftig helfen unsere Behörden und alle Kreise unseres Volkes, die vielfachen Leiden, von denen so viele Angehörige der kriegführenden Staaten heimgesucht werden, auf jede Weise zu lindern. Diese uneigennützige Tätigkeit erhöht nicht nur unsere internationale Stellung, sondern sie bringt auch uns Schweizer einander näher: Es ist der Segen der guten Tat.» Dass der Bundesrat nur wenige Wochen zuvor seine Praxis beim Export von Kriegsmaterial geändert hatte und nach einem anfänglichen Verbot die Lieferung von Munitionsbestandteilen in immer grösserem Umfang zuliess, verschwieg Calonder hier – und auch in den folgenden Jahren gelangten nur wenige Informationen zu den Schweizer Kriegsmateriallieferungen an die Öffentlichkeit.

Als im August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, ahnten nur wenige, dass sich der Krieg nach wenigen Monaten zu einer hoch technisierten Produktions- und Abnutzungsschlacht entwickeln würde. Um die Materialschlachten durchstehen zu können, wurden die Kontrolle, Verfügbarkeit und optimale Nutzung wirtschaftlicher Ressourcen zu einer zentralen Aufgabe der Kriegführung. Eindrucksvoll lässt sich die neue Dimension des Kriegs an der «Munitionskrise» belegen, die bereits im Herbst 1914 in Deutschland, Frankreich, Britannien und Russland eintrat: Schon nach wenigen Wochen waren die Munitionsvorräte der Artillerie erschöpft, weil der Verbrauch von schweren Granaten in einem Stellungskrieg wesentlich höher war als in einem Bewegungskrieg. Munition wurde in den kriegführenden Ländern rasch zu einem zentralen, in grossen Mengen benötigten «Rohstoff», dessen Nachfrage man entweder durch den Ausbau eigener Rüstungsindustrien oder durch den Import von Munition aus neutralen Ländern zu decken suchte.

Die Schweiz war bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht nur eines der am stärksten industrialisierten Länder der Welt, sondern verfügte auch über eine international renommierte und stark exportorientierte Uhren-, Metall- und Maschinenindustrie. Im Bereich des Kriegsmaterialexports verfolgte die Schweiz aber eine traditionell restriktive Linie, die auch zu Beginn des Kriegs noch galt. Schon am 4. August 1914 verbot der Bundesrat die «Ausfuhr von Waffen, Munition und Kriegsmaterial in die angrenzenden kriegführenden Staaten sowie die Ansammlung solcher Gegenstände im betreffenden Grenzgebiete».

Uhrenindustrie produziert Zünder

Nicht verboten war hingegen der Export von Munitionsbestandteilen, der in der Folge rasch einsetzte und in seiner Dynamik auch die Bundesbehörden überraschte. Den Zoll passierten diese Lieferungen als Messingstücke, Guss, schmiedeeiserne Röhren oder Schrauben.

Völkerrechtlich war die Lieferung von Kriegsmaterial durch private Unternehmen grundsätzlich erlaubt. Die Haager Konvention von 1907 hatte staatliche Kriegsmateriallieferungen aus neutralen Staaten zwar verboten. Ausgehend von wirtschaftsliberalen Überlegungen war ein neutraler Staat aber nicht verpflichtet, die Ausfuhr oder Durchfuhr von Waffen und Munition zu verhindern. Bereits im September 1915 stellte das Politische Departement mit erfrischender Offenheit fest, «die in grossem Umfang in der Schweiz erstellten Munitionsbestandteile» würden «unbeanstandet nach den verschiedenen Staaten» exportiert.

Die Herstellung von Munition erfolgte sowohl in grossen, traditionsreichen Unternehmen als auch in kleineren, über das ganze Land verstreuten gewerblichen Betrieben. Zugleich führte der Krieg zu einer Flut an Unternehmensgründungen, wobei «Munitionswerkstätten» unter diesen Neugründungen besonders zahlreich waren. Schwerwiegend war in den kriegführenden Ländern vor allem der Mangel an Zeit- beziehungsweise Präzisionszündern für Schrapnellgranaten, deren Herstellung technisch anspruchsvoll und für deren Produktion die Uhrenindustrie besonders gut geeignet war.

Ausgegangen waren diese Lieferungen aus der Schweiz aber nicht von Nachfragen der deutschen, französischen oder britischen Regierung, sondern von Schweizer Unternehmen, die seit Ende 1914 mit entsprechenden Angeboten an die verschiedenen Botschaften in Bern gelangt waren. Seit Mai 1915 nahmen die Bestellungen mit Blick auf die katastrophale Munitionsversorgung deutlich zu, und die Lieferungen der Schweizer Unternehmen wurden von der französischen und der britischen Regierung immer enger koordiniert und kontrolliert.

Mitte Juli 1915 meldete Theophil Sprecher von Bernegg, Chef des Generalstabs der Armee, an das Politische Departement: «Ich habe durch den Generalsekretär der Neuenburger Handels-Kammer erfahren, dass die Munitionsfabrikation für Frankreich eine immer grössere Ausdehnung gewinnt. Auch für andere Staaten des Vierverbandes setzen die Lieferungen jetzt ein. In Chaux-de-Fonds sind mehrere Ingenieure der Creusotwerke ständig eingerichtet, um die Lieferungen zu kontrollieren und den Abtransport zu regulieren. In Tavannes arbeitet die Tavannes-Watch Comp. ebenfalls ausschliesslich für Frankreich. Sie soll in der letzten Zeit wiederholt durch französische Generale inspiziert worden sein. Auch soll der Unterstaatssekretär des Kriegsministeriums (für Artillerie und Munition, Anm. d. Red.), Thomas, kürzlich dort gewesen sein.»

«Gewaltige Aufträge»

Während die vorwiegend im Jurabogen konzentrierte feinmechanische Uhrenindustrie Präzisionszünder für Artilleriegeschosse lieferte, exportierte die mehrheitlich in der Ostschweiz angesiedelte Metall- und Maschinenindustrie neben Granathülsen auch die verschiedensten, für die Munitionsfabrikation benötigten Werkzeugmaschinen wie Drehbänke, Fräs-, Bohr- oder Stanzmaschinen.

Schon ein kurzer Blick auf die Exportzahlen macht deutlich, dass es sich um grosse, für die Kriegsparteien relevante Lieferungen handelte; und im Gegensatz zur Ausfuhr von zivilen Gütern dauerte der Export von kriegswichtigen Gütern bis zum Herbst 1918 an. Insbesondere das Jahr 1917 kann als Rekordjahr bezeichnet werden, in dem alle bisherigen Exportzahlen noch einmal deutlich übertroffen wurden. Schon im Februar 1917 hielt der Bundesrat fest, dass «nach und nach ein grosser Teil der schweizerischen Maschinenindustrie zur eigentlichen Kriegsindustrie» geworden sei und «gegenwärtig von beiden Gruppen gewaltige Aufträge in der Schweiz untergebracht» würden.

Während sich die Exportmengen bei den eisernen Schmiedewaren vervierfachten, stiegen sie bei den Werkzeugmaschinen und Kupferwaren um rund das Zwölffache. Allein diese im engeren Sinn für die Munitionsfabrikation getätigten Exporte summierten sich im Verlauf des Kriegs auf nominal rund 850 Millionen Franken. In der Uhrenindustrie führte die Aufnahme der Munitionsfabrikation zu einer Verdoppelung ihres Produktionsumfangs; im Rekordjahr 1917 wurden schliesslich mehr «Kupferwaren» als Uhren exportiert.

Im Februar 1917 hielt der Bundesrat mit Blick auf die Beschäftigtenzahlen in der Uhren-, Metall- und Maschinenindustrie fest: «Waren schon bisher mindestens 30 000 schweizerische Arbeiter in der Munitionsfabrikation tätig, so ist diese Zahl jedenfalls gegenwärtig noch wesentlich gestiegen.» Erst 1918 – ausgehend von der schwierigeren Rohstoffversorgung, der wachsenden Teuerung und den inzwischen stark ausgebauten Produktionskapazitäten in den kriegführenden Ländern – gingen die Lieferungen zurück.

Die Kritik an den Munitionslieferungen wurde erst seit 1917 lauter, als die Ausfuhren ihren Höhepunkt erreichten. Im Dezember 1917 publizierte die Westschweizer Satirezeitschrift «L’Arbalète» unter dem Titel «Des munitions!» mehrere Karikaturen und ein satirisches «Plaidoyer pour le fabricant de munitions». Kritisiert wurden nicht nur die hohen Kriegsgewinne der Fabrikanten. Thematisiert wurde auch der Widerspruch zwischen den staatlich geduldeten Munitionslieferungen und der humanitären Tradition des Landes – hatte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) im Herbst 1917 doch den einzigen im Verlauf des Kriegs vergebenen Friedensnobelpreis erhalten.

Mitte November 1917 riefen die Pazifisten Max Daetwyler und Max Rotter die Arbeiterschaft schliesslich zu einer Grossdemonstration «gegen die Munitionserzeugung» in Zürich auf, die zu schweren Ausschreitungen mit drei toten Arbeitern, mehreren Schwerverletzten mit Bauch- und Lungenschüssen und einem «aus dem Hinterhalt» erschossenen Stadtpolizisten führten.

Trotz des grossen Umfangs der Lieferungen und der seit 1917 wachsenden Kritik hat Traugott Geering, Historiker und bis 1919 Sekretär der Basler Handelskammer, schon in den zwanziger Jahren «das Fehlen fast aller und jeder Berichterstattung» zu diesem Thema beklagt. Während über die humanitären Leistungen des Landes immer wieder ausführlich berichtet wurde, sind Informationen über die Kriegsmateriallieferungen nur spärlich zu finden. In der schweizerischen Geschichtsschreibung hat dieses Schweigen bis in die siebziger Jahren angehalten – eine detaillierte Untersuchung der schweizerischen Kriegsmateriallieferungen im Ersten Weltkrieg fehlt bis heute.

Roman Rossfeld ist Historiker und koordiniert 
das vom Schweizerischen Nationalfonds geförderte Sinergia-Projekt «Die Schweiz im Ersten Weltkrieg: Transnationale Perspektiven 
auf einen Kleinstaat im totalen Krieg».

Die Affäre Bloch : Ein Schweizer «Munitionskönig»

Wie umfangreich die Lieferungen von Munitionsbestandteilen der Schweizer Wirtschaft im Ersten Weltkrieg waren, zeigt auch der nach dem Krieg durchgeführte Prozess gegen den «Munitionskönig» Jules Bloch aus La Chaux-de-Fonds. Als Agent der französischen Waffenschmiede Schneider in Le Creusot hatte er kurz nach Kriegsanfang begonnen, Aufträge für die Herstellung von Granatzündern an die Westschweizer Uhrenindustrie zu vermitteln. Im August 1918 wurde nach amtlicher Prüfung seiner Geschäftsbücher öffentlich, dass seine Kriegsgewinne weit höher waren als in der Steuererklärung angegeben. Zugleich hatte Bloch seinen «Jugendfreund» Julien Junod, Inspektor der Eidgenössischen Kriegsgewinnsteuerverwaltung, bestochen.

Am 7. August 1918 wurde Bloch verhaftet und von der Bundesanwaltschaft wegen Beamtenbestechung und Steuerhinterziehung angeklagt. Gemäss Anklageschrift hatte Bloch mit Munitionsgeschäften 1915 4,8 Millionen, 1916 14,1 Millionen und 1917 19,8 Millionen Franken Gewinn erzielt und zugleich Steuern von mehr als 11 Millionen Franken hinterzogen. Ende Januar 1919 wurde er vom Bundesstrafgericht in Lausanne zu acht Monaten Gefängnis und einer Busse von 10 000 Franken verurteilt.

Schon vor der Urteilsverkündung herrschte gemäss der NZZ «landauf und landab» eine «Stimmung bittern Unwillens». Die Zeitung betonte aber auch den «Unternehmungsgeist» und die «Wohltätigkeit» Blochs in den Kriegsjahren. Anders «wie so viele, die nicht verhaftet» worden seien, habe Bloch nicht «zur Verteuerung der Lebenshaltung, zur Schmälerung der Lebensmittel, zur Spekulation auf Kosten des Volkes oder dergleichen beigetragen». Das sozialdemokratische «Volksrecht» hingegen hielt fest, der «Bombenkönig der Schweiz» habe seine Kriegsgewinne aus «Blut und Leichen» erzielt.

Roman Rossfeld