Durch den Monat mit Ruth Weiss (1): «Können Sie sich in Deutschland je wieder heimisch fühlen?»

Nr. 27 –

Die Journalistin und Schriftstellerin Ruth Weiss wird diesen Monat neunzig Jahre alt. Jahrzehntelang lebte sie im südlichen Afrika, eine Heimat hat sie nie gefunden.

Ruth Weiss: «Ich spüre immer noch Vorurteile gegen Menschen, die als fremd wahrgenommen werden. Heute sind das Türken, Muslime, Asylbewerber. Das ist so unerträglich wie damals.»

WOZ: Frau Weiss, vor zwölf Jahren sind Sie nach Deutschland zurückgekehrt. Wollten Sie in Ihrem Herkunftsland in den Ruhestand treten?
Ruth Weiss: Nein. Mein Sohn lebt mit seiner Familie in Dänemark. Deshalb bin ich von der Isle of Wright, wo ich vorher lebte, näher zu ihm gezogen. Wir haben eine sehr freundschaftliche Beziehung. Auch habe ich Freunde in Lüdinghausen. Eigentlich war es eine von der Vernunft her getroffene Entscheidung. Erst später begann ich, das Städtchen und die Umgebung zu mögen.

Wie kam es dazu?
Ich war mit meinem Buch «Meine Schwester Sara» in Schulen unterwegs. Es handelt von einem Adoptivkind mit jüdischen Wurzeln in Südafrika und seinem späteren Widerstand gegen das Apartheidregime. Nach den Lesungen habe ich jeweils mit den Schülern und Schülerinnen diskutiert. Diese Jungen haben keinen Bezug mehr zur Geschichte ihres Landes der dreissiger und vierziger Jahre. Sie sind ja die vierte Generation seit dem Krieg. Meistens sind sie sehr offen (vgl. WOZ Nr. 33/2008 ). Aber bei den Älteren, bei den Lehrerinnen und Lehrern, spüre ich manchmal immer noch Züge des Nazitums in ihren Haltungen.

Wie drückt sich das aus?
In kleinen Bemerkungen. Zum Beispiel denken wohl viele, dass der Krieg ja schon lange her ist, und plädieren deshalb für ein «Schwamm drüber». Andere sagen, dass da ja schon etwas dran gewesen sein muss, dass man die Juden nicht mehr wollte. Generell geschah die Vergangenheitsbewältigung in Europa sehr oberflächlich. Wenigstens geht der Geschichtsunterricht jetzt bis zum Zweiten Weltkrieg und hört nicht beim Ersten auf. Kürzlich fragte mich ein Schüler, wann meine Eltern nach Deutschland gekommen seien. Er dachte tatsächlich, Juden seien Ausländer, und wusste nicht, dass es auch deutsche Juden gibt.

Viele emigrierte deutsche JüdInnen wollen nie wieder einen Fuss auf deutschen Boden setzen.
Ja, das stimmt. In meiner Geburtsstadt Fürth in Bayern gab es eine grosse jüdische Gemeinde. In den dreissiger Jahren mussten wir die jüdische Schule besuchen. Viele unserer Klassenkameraden sind in die USA gezogen und nie wieder nach Deutschland gekommen – unter ihnen der spätere US-Aussenminister Heinz respektive Henry Kissinger. Und die wenigsten von ihnen konnten in den siebziger Jahren überhaupt noch Deutsch.

Was war bei Ihnen anders?
Meine Schwiegereltern haben wie durch ein Wunder den Holocaust in Deutschland überlebt. Von den fünfziger bis siebziger Jahren haben wir sie von Südafrika aus oft besucht. Ausserdem habe ich gute Freunde hier. Auch als Journalistin – unter anderem für die «Financial Times» und den britischen «Guardian» – hatte ich immer wieder mit und in Deutschland zu tun. Deshalb waren die Berührungsängste für mich nicht so gross wie für andere meiner Generation. Auch sprach ich in Südafrika mit meinem Mann Deutsch, schrieb stets für deutschsprachige Zeitungen – unter anderem für die WOZ.

1936 emigrierten Sie im Alter von zwölf Jahren mit Ihrer Familie auf einem der letzten Passagierschiffe nach Südafrika, und dann lebten Sie in verschiedenen afrikanischen Ländern und in England. Ist Deutschland für Sie immer noch Ihre Heimat?
Nein, eine Heimat in Form eines Orts habe ich nicht. Heimat ist für mich am ehesten dort, wo meine Freunde sind und mein Sohn ist. Deutschland hat all die Juden, die geflohen sind, auch nie eingeladen zurückzukommen.

Wie fühlt es sich heute an, als Jüdin in Deutschland zu leben?
Die Atmosphäre ist natürlich anders als vor dem Krieg und in den Nachkriegsjahren. Ich glaube nicht, dass die Rechtsradikalen nochmals den Ton angeben werden. Aber es gibt sie noch. Auch spüre ich immer noch viele Vorurteile gegen Menschen, die als fremd wahrgenommen werden. Heute sind das Türken, Muslime, Asylbewerber. Das ist genauso unerträglich wie damals.

Haben Sie sich in Südafrika je heimisch gefühlt?
Nein, von Anfang an nicht. Es gab da wohl eine grosse jüdische Diaspora. Die meisten Juden flohen Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem zaristischen Russland, dann kamen viele – auch jüdische – Immigranten, als Gold entdeckt wurde. Ab 1933 immigrierten viele deutsche Juden. Aber ich erlebte in Südafrika die gleiche Diskriminierung wie in Deutschland; die Zielgruppe waren einfach nicht Juden, sondern Schwarze. Das ging mir völlig gegen den Strich.

Warum setzten Sie sich in den letzten Jahren immer mehr mit deutscher und jüdischer Geschichte auseinander?
Seit den achtziger Jahren schreibe ich vorwiegend auf Deutsch, und seit zwanzig Jahren lebe ich in Europa. Und ja, es ist wohl schon auch eine Neugier auf die eigenen Wurzeln. Von jüdischer Geschichte zum Beispiel wusste ich bis vor kurzem noch nicht so viel, finde sie aber zunehmend interessant.

Gerade ist der neuste Roman von Ruth Weiss (89), «Der jüdische Kreuzfahrer» (Verlag André Thiele), erschienen. Ausserdem zeigen die Basler Afrika-Bibliographien eine Ausstellung über ihr Leben unter dem Titel «My Very First Question to You». Details unter http://baslerafrika.ch/unser-service/veranstaltungen/first-question.