Urs Zürcher: Eine kleine Ergänzung der Wirklichkeit

Nr. 27 –

Urs Zürchers provokanter Tagebuchroman «Der Innerschweizer» bringt den Ost-West-Konflikt während der «bewegten» achtziger Jahre nach Basel.

Urs Zürcher über sein Romandebüt: «Es war nicht meine Absicht, die Geschichte der achtziger Jahre umzuschreiben.» Foto: Ayse Yavas

Was, wenn der Kalte Krieg in den achtziger Jahren plötzlich heiss geworden wäre und in Basel Einzug gehalten hätte?

Das ist die Frage, die der in Basel lebende Historiker und Lehrer Urs Zürcher in seinem literarischen Debüt aufwirft. Sein 720 Seiten starker Tagebuchroman «Der Innerschweizer» ist das konsequente Resultat seiner historischen Spekulation.

Darin kommt der Tagebuchschreiber Ursus, kurz U., mit knapp zwanzig Jahren aus der Innerschweiz nach Basel, um Philosophie zu studieren. Er findet einen Platz in einer linken WG an der (fiktiven, aber an das Hüninger und das Klybeckquartier in Basel erinnernden) Hegnauerstrasse und beginnt seine Aufzeichnungen, die vom 11. Februar 1979 bis zum 11. August 1989 reichen. U. ist ein sympathischer Antiheld, der das Zeitgeschehen sowie seine persönlichen Liebschaften und Träume akribisch dokumentiert. In kollektiven Küchenkontemplationen bei Wein, Bier und bei Kaffee aus Nicaragua wird an der Hegnauer gestritten und beraten und schliesslich eine «grosse Aktion» geplant. Diese missglückt, mit fatalen Folgen: Die Sowjets marschieren in Basel ein, und ein grossflächiger Krieg, der der Dritte Weltkrieg sein könnte, bricht aus.

Das Kräftemessen der Supermächte

«Es war nicht meine Absicht, die Geschichte der achtziger Jahre umzuschreiben», sagt Urs Zürcher. Ihn habe vielmehr eine Frage umgetrieben: Was, wenn sich die Geschichte und ihre ExponentInnen wie Michail Gorbatschow oder seine helvetischen Pendants anders entwickelt hätten? «Ich habe schlicht und einfach die Realität umgeformt», bringt der Autor sein Projekt auf den Punkt, für das er während zweier Jahre ausgedehnte Recherchen in Fichen und Tageszeitungen betrieben hatte. Das Kräftemessen der beiden Supermächte, das im Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan 1979 einen Höhepunkt gefunden hatte – dieser «globale Megadiskurs» im Ost-West-Konflikt habe das Denken und Handeln vieler Menschen stark beeinflusst, sagt der fünfzigjährige Historiker.

Die Achtziger seien aus schweizerischer Sicht literarisch noch nicht so extensiv bearbeitet worden, sagt der Autor, der seinen Protagonisten Max Frisch und Fritz Zorn lesen lässt. Wie U. kam Zürcher während dieser Zeit aus der Innerschweiz nach Basel, und wie U. wurde er hier politisiert. Trotzdem sei U. nicht das Alter Ego Zürchers und «Der Innerschweizer» keine fiktionale Dokumentation seiner eigenen Jugend. «Ich musste nichts abarbeiten», so Zürcher, «das würde ich, wenn schon, in einer Therapie tun.» Zürcher selbst war in den achtziger Jahren in der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee aktiv und ist bis heute GSoA-Mitglied. Die Jugendunruhen erlebte er als «engagierter Zuschauer», wie er sagt.

«Es ist ja generell so, dass die Jahre zwischen 17 und 25 die Grundhaltung für das ganze Leben prägen», sagt Zürcher. Er denke zwar heute differenzierter und habe sich, wie andere auch, von einigem verabschiedet, das er in seinen jungen Jahren hochhielt: «Es gibt keine hochpolitischen WG-Diskussionen mehr darüber, ob man einen Telefonbeantworter anschaffen soll oder einen Fernseher.» Doch gelte es nach wie vor, die Klassiker der Achtziger – Gerechtigkeit, Frieden und Solidarität – mit Leben und Aktion zu füllen. «Wir leben in einer Zeit des angenehmen, sozialdemokratisch geprägten Pragmatismus», meint er. «Und der neue Feind heisst Islam.»

Falsche Echtheit

Inzwischen hat Zürcher auch eine Bühnenfassung seines literarischen Erstlings geschrieben. Dass er den Roman als Tagebuch gestaltet hat, erklärt er mit der Attraktivität dieser Form: «Sie verkoppelt Banalitäten der Basler WG mit der grossen Weltpolitik der Achtziger.» Ausserdem suggeriere das Tagebuch Authentizität. Diese gibt der Autor noch mit einem weiteren Kniff vor: «Der Innerschweizer» beginnt mit einer Vorbemerkung eines fiktiven Exspitzels der linken Szene in Basel, der das Tagebuch dem Autor Zürcher zugestellt haben soll. Die weiteren Kommentare des Exspitzels sind in Kursivschrift zwischen U.s Aufzeichnungen gestreut – ergänzend, belehrend und korrigierend.

Nach über 700 intensiven Seiten, in denen Praktiken und Theorien, wie sie die Linke in Westeuropa inklusive jener der Insel Schweiz in den achtziger Jahren debattierte und lebte, nach Belieben dekonstruiert, verdreht und mit Lügen aufgemischt werden, verliert sich U.s Spur in Italien. Zurück bleiben seine Tagebuchaufzeichnungen, wie ein Vermächtnis an die nächste Generation. Und darin steht: «Ein Tagebuch ist ein Stopp- und Übersichtsversuch, es löst Dinge aus der Wirklichkeit heraus, aus dem ewigen Treiben, und vermittelt den Eindruck von Kontrolle.» Es gehe darum, bekennt U. an anderer Stelle, «die Wirklichkeit ein wenig zu ergänzen, gerade so, dass es mir gefällt». Und «vielleicht ist Tagebuch schreiben ja nichts als ablenken vom Wesentlichen».

Was dieses Wesentliche ist, lässt «Der Innerschweizer» unbeantwortet. Wer sich einlässt auf das lustvolle Spiel von fiktiver und faktischer Wirklichkeit, wird der unzähligen Möglichkeiten gewahr, die diese alternative Geschichtslektion eröffnet: Es hätte so, aber auch ganz anders verlaufen können.

Im Rahmen der Reihe «Zur Lage der Republik» diskutiert Autor Urs Zürcher am Mo, 29. September 2014, um 20 Uhr in der Zürcher Buchbar Sphères mit dem Historiker Valentin Groebner.

Urs Zürcher: Der Innerschweizer. Bilgerverlag. Zürich 2014. 720 Seiten. 44 Franken