Durch den Monat mit Anita Ulrich (Teil 1): «Was machten denn Trotzki und Lenin bei Ihnen im Archiv?»

Nr. 32 –

Seit 1906 dokumentiert das Schweizerische Sozialarchiv in Zürich die sozialen Bewegungen in der Schweiz. Anita Ulrich (64) verlässt das Archiv nach 26 Jahren und blickt zurück auf die beispiellose Geschichte einer einflussreichen Institution.

Anita Ulrich im Treppenhaus des Sozialarchivs: «Die Russen kamen vor allem zum Lesen und Schreiben. Wir haben sogar noch Bestellzettel von ihnen!.»

WOZ: Frau Ulrich, Sie waren über zwei Jahrzehnte Leiterin des Sozialarchivs. Wie ist das Archiv entstanden?
Anfang des 20. Jahrhunderts bis hin zum Ersten Weltkrieg wurden in der Schweiz viele Konflikte und Streiks ausgetragen. Die extremen Unruhen, die Repression und die Hilflosigkeit des Staats den sozialen Problemen gegenüber können wir uns heute nicht mehr vorstellen. Sogar das liberale Lager sagte sich, so könne es in einer Demokratie nicht weitergehen. Gründer des Sozialarchivs war dann 1906 Paul Pflüger, ein Pfarrer und sozialdemokratischer Politiker. Er schloss sich mit Leuten aus der Arbeiterbewegung zusammen. Das Anliegen war simpel: Die aktuellen Auseinandersetzungen sollten unbedingt dokumentiert werden.

Damals gingen im Sozialarchiv Russinnen und Russen ein und aus, darunter auch die kommunistischen Vordenker Leo Trotzki und Wladimir Iljitsch Lenin.
Ja, damals hiess das Sozialarchiv noch Zentralstelle für soziale Literatur der Schweiz und bot vorwiegend Bücher und keine Archivalien an. Die Russen kamen vor allem zum Lesen und Schreiben. Wir haben sogar noch Bestellzettel von ihnen! Sie waren hier, um die Theorie für ihre Bewegung zu entwickeln, Positionen und Ziele zu definieren und sich gegen die nicht revolutionäre Linke abzugrenzen. Vor der russischen Oktoberrevolution reisten Trotzki und Lenin dann nach Russland.

Welche Klientel haben Sie ab 1988 während Ihrer Zeit selber ein- und ausgehen sehen?
Pro Jahr verzeichnen wir mehr als 63 000 Besucherinnen und Besucher. Mit dem Ausbau des Hochschulwesens ab den siebziger Jahren kamen plötzlich viel mehr Forschende ins Haus, etwa von der jetzigen Zürcher Hochschule der Künste. Die Künstlerinnen und Künstler kommen vor allem wegen des Ton- und Bildarchivs, das wir 2003 eingeführt haben. Früher hatten wir mehr Mittelschüler und Mittelschülerinnen, die sich heute eher im Internet informieren. Sie kommen jedoch immer noch für ihre Abschlussarbeiten zu uns. Die klassischen Arbeiter mit dem Béret sah ich immer, wenn ich Abenddienst hatte. Die kamen früher hierher, um Broschüren oder Zeitungen zu lesen. Die sind aber immer mehr verschwunden, so wie auch die Politiker. Die Gemeindekanzleien haben ja mittlerweile alles online verfügbar gemacht. Heute wird bei uns viel mehr für spezielle Arbeiten gelernt. Aber es gibt in der Stadt Zürich auch Leute, die ins Sozialarchiv kommen, einfach, um ein wissenschaftliches Buch zu lesen, zum Beispiel über die Lage in der Ukraine.

Das Sozialarchiv war früher der Treffpunkt der Arbeiterbewegung. Darf man heute im Sozialarchiv überhaupt noch reden, oder wird das Archiv mehr zur Unibibliothek mit Sprechverbot?
Im Gegenteil, das mit dem Leisesein war früher viel extremer. Die Bibliothekarinnen haben in der Ausbildung noch das richtige «Pssst!» üben müssen. Hier sind wir allerdings selten eingeschritten, wenn im Lesesaal gesprochen wurde. Es kommt aber auch selten vor, weil alle hinter ihren Arbeiten sitzen. Wir haben leider kein Café und keinen Grossraum. Das ist meines Erachtens der grosse Nachteil am Sozialarchiv.

Wieso haben Sie kein Café eingerichtet?
Das Haus wird leider nicht grösser.

Von den Archivarinnen und Bibliothekarinnen sagt man, sie seien verschlossen und würden gerne alleine arbeiten.
Dem stimme ich überhaupt nicht zu. Das Klischee war sexistisch, man sprach von den «ledigen Jungfern» im Archiv, die dazu noch intelligent sind, und das ist eben nie gut, wenn eine Frau zu gescheit ist. Das Archivwesen hat sich sehr gewandelt, der Tätigkeitsbereich ist nicht mehr derselbe. Heute ist das Sozialarchiv ein moderner Dienstleistungsbetrieb. Nehmen wir zum Beispiel die Personen, die an der Theke bei der Benutzung helfen oder Führungen machen. Wenn ich dort arbeiten will, brauche ich Kontaktfreude, Hilfsbereitschaft und Didaktik, auch Teamfähigkeit. Die typischen Arbeitsorte für Bibliothekare und Archivarinnen haben sich ausdifferenziert. Das Problem ist vielleicht, dass es nicht so viele Archivarinnen und Bibliothekare gibt, die Berufsgruppe ist relativ klein. Vielleicht glaubt man darum, die Personen in dieser Branche seien spezieller als andere.

Ihr langjähriger Mitarbeiter und stellvertretender Direktor Urs Kälin meinte, ohne Sie würde es das Sozialarchiv nicht mehr geben. Konnten Sie Ihre Ziele – mal abgesehen von der Eröffnung eines Cafés – erreichen?
Ohne ihn gäbe es das Sozialarchiv auch nicht mehr, er hat die Archivabteilung zu einer ersten Adresse entwickelt. In den letzten zwanzig Jahren hat der Wandel der Informations- und Medientechnologie auch Bibliotheken und Archive erfasst. Meine Aufgabe war es, das Sozialarchiv in diesem Veränderungsprozess weiter zu entwickeln und es – zusammen mit meinem Team – auf die Höhe der Zeit zu bringen. Dafür habe ich mich mit ganzer Kraft eingesetzt. Motiviert hat mich das Sozialarchiv als lebendiger, kulturell und politisch relevanter Ort. Die Faszination, die von seinen Beständen ausgeht und der anregende Austausch mit allen, die im Sozialarchiv verkehrt haben, waren mein Antrieb. Ich kann sagen, dass die Tätigkeit im Sozialarchiv für mich eine Art Lebenswerk ist.

Anita Ulrich hat das Schweizerische Sozialarchiv in Zürich wesentlich ausgebaut und in die
digitale Ära geführt. Nach 26 Jahren hat sie
 nun die Leitung ihrem Nachfolger Christian Koller übergeben.