Alfred Zimmerlin: Ein Reisender zwischen überraschenden Zeiten

Nr. 36 –

Der Zürcher Musiker Alfred Zimmerlin gehört zu den wichtigsten Figuren der Schweizer Improvisationsszene, ist aber auch ein viel beachteter Komponist. In den kommenden Wochen ist er in beiden Funktionen zu erleben.

«Musik ist das Ziel. Der Weg dahin ist wahrscheinlich gar nicht so wichtig»: Alfred Zimmerlin, hier am Jazzfestival Willisau 2013. Foto: Dragan Tasic

Morgens an einem See in einer Stadt. Eine Frau blickt aus dem Fenster und beobachtet, was vor sich geht: Ein blonder Mann hat einen Hustenanfall, Leute rennen zum Bus, eine Frau mit eisblauen Augen steigt aus einem Mercedes. Am Mittag wird die Frau am Fenster wieder hinausschauen und am Abend nochmals; jeweils dreissig Minuten lang wird sie Alltägliches konstatieren, und aus diesen drei Teilen entsteht allmählich ein Theaterstück. Wobei wir ZuschauerInnen nicht ganz sicher sind, wo dieses Theater stattfindet: auf der Bühne just vor uns oder im Kopf der Frau?

Die Frau singt, gänzlich unbegleitet; das allein ist ungewöhnlich. Es entsteht eine besondere Art von Oper – mit einer Ausgangslage, die so gar nicht opernhaft zu sein scheint. Jedenfalls spielen die grosse Liebe und der Tod darin nur eine beiläufige Rolle.

Der Komponist Alfred Zimmerlin und die Librettistin, die ungarisch-schweizerische Schriftstellerin Zsuzsanna Gahse, entwickeln in ihrer Commedia mit dem Titel «Mehr als elf» keine herkömmliche Dramatik mit Ausbrüchen und Abgründen. Die Zeit verstreicht darin ohne die üblichen Höhepunkte, aber nicht minder intensiv.

Zeit erleben

Wie unterschiedlich Zeit in der Musik vergehen kann, hat Alfred Zimmerlin oft in seinen Werken aufgezeigt. Ein wunderbares frühes Beispiel ist etwa sein Klarinettenquintett von 1989/90, bestehend aus sieben Sätzen, die durch unterschiedliche kammermusikalische Interaktionsweisen charakterisiert sind: In jedem Abschnitt ändert sich der Zeitfluss. Zuletzt erhält zudem jedeR der fünf InterpretInnen Gelegenheit, seine oder ihre Partie im eigenen Tempo zu gestalten. Auch eine Tonbandspur tritt hinzu. Sie enthält Alltagsgeräusche wie vorbeifahrende Autos, Glockenklänge, quasi den Tages- und Nachtlauf im Zeitraffer, und damit nochmals eine andere Zeit: unsere Gegenwart, die den Hintergrund für die Klänge bildet.

Ganz sacht führt uns die Musik Zimmerlins immer wieder zu solchen Erlebnissen. Sie will nicht auftrumpfen, sie will nicht dauernd von einem expressiven Ich sprechen, will kein Etikett tragen. Sie führt uns in der Zeit. Und dadurch hebt sie sich von vielem ab, was heute an Neuer Musik entsteht.

Bei Hans Wüthrich und Hans Ulrich Lehmann hatte der aus Schönenwerd stammende Musiker einst Kompositionsunterricht genommen, bei Peter Benary in Luzern lernte er privat Theorie und bei Kurt von Fischer und Wolfgang Laade in Zürich studierte er Musikwissenschaft und Musikethnologie. Jahrzehntelang war Alfred Zimmerlin als Musikkritiker tätig. Dieses Jahr hat er dafür den Kulturpreis des Kantons Zürich erhalten.

Doch damit nicht genug: Wie zahlreiche andere Schweizer Komponisten von heute, Dieter Ammann etwa oder Urban Mäder, ist Zimmerlin in einem Bereich tätig, der der Komposition fernzustehen scheint – als frei improvisierender Cellist. Seit 2010 unterrichtet er Improvisation an der Hochschule für Musik in Basel.

Zwei Methoden, Musik zu machen

Alfred Zimmerlin verbindet die Genres also gleichsam in Personalunion. «Komposition und Improvisation sind für mich zwei Arten, zwei Methoden, wenn man so will, um Musik zu machen», sagt er, «und Musik ist das Ziel.» Der Weg dorthin sei wahrscheinlich gar nicht so wichtig.

So unterschiedlich die Methoden, so vielfältig sind doch die Beziehungen zwischen ihnen: «Das Komponieren ist eine sehr reflektierende Tätigkeit, während das Improvisieren sehr vom Körper her geschieht – was nicht heisst, dass beim Improvisieren das Hirn ausgeschaltet ist und umgekehrt beim Komponieren der Körper ruht», sagt Zimmerlin. Sowohl die Körpererfahrung als auch die Zeiterfahrung des Improvisierens können beim Komponieren eine wichtige Rolle spielen, wie er betont. Genauso wichtig sei umgekehrt die Reflexionserfahrung beim Komponieren für das Improvisieren.

Trio mit Gästen

Vor allem aber ist die freie Improvisation meist eine gemeinschaftliche Tätigkeit. Und da zeigt sich die hervorragende Dialog- und Kommunikationsfähigkeit Zimmerlins. In den kommenden Monaten wird das etwa in den Konzerten seines Streichtrios mit dem Geiger Harald Kimmig und dem Kontrabassisten Daniel Studer zu erleben sein. An fünf Abenden spielen die drei im Kunstraum Walcheturm in Zürich mit einem jeweils neuen Gast zusammen: Kontinuität des Zusammenspiels und Überraschung finden so zueinander, jedes Mal anders.

Seit dreissig Jahren gehört Alfred Zimmerlin auch dem einflussreichen Trio Karl ein Karl an, einem Improvisationsensemble und Komponistenkollektiv mit dem Gitarristen Michel Seigner und dem Bassisten Peter K Frey. Gerade mit diesem Trio hat Zimmerlin auch die Grenzbereiche zwischen Improvisation und Komposition ausgelotet. Über die Jahre entstanden diverse multimediale und theatrale Arbeiten, zuletzt in diesem Frühling das Projekt «Der unverrückbare Himmel».

Der Polarforscher und die Ruderin

Es erzählt von einer Antarktisexpedition des britischen Polarforschers Ernest Shackleton, die 1914 im Packeis stecken blieb – wobei es Shackleton gelang, seine Mannschaft in diesem harten Winter zusammenzuhalten und zu retten. Kontrastiert wird diese irgendwie doch heroische Geschichte mit den Berichten einer einzelnen Reisenden, der Schriftstellerin Marie von Bunsen. Sie zog damals fast gleichzeitig auf einem Ruderboot durch die deutsche Seenlandschaft; allein, beobachtend, sich selber wahrnehmend – ein fast alltäglich wirkendes Unterfangen, wie es für eine Frau in jenen Jahren allerdings unüblich war. Ihre Berichte unterbrechen jene von der Antarktisexpedition.

Und so erlebt man in diesem Stück erneut zwei Zeitläufte: eine durch Spannung und Nicht-nachlassen-, Nicht-aufgeben-Dürfen geprägte Intensität, die sich zum fast nicht mehr Erträglichen steigert, daneben eine fast anekdotische, ruhige, etwas schweifende, Erfahrungen sammelnde Entspanntheit.

«Mehr als elf». Commedia für eine Opernsängerin, Uraufführung. Basel, Ackermannshof (St. Johanns-Vorstadt 19–21), Samstag 6. September 2014. 
Teil 1: 11 Uhr, Teil 2: 17 Uhr, Teil 3: 20 Uhr.

Das Streichtrio Kimmig–Studer–Zimmerlin 
startet seine «Konzerte mit Gästen» am Mittwoch, 
17. September 2014 (20.30 Uhr), im Kunstraum Walcheturm Zürich (Kanonengasse 20).