Der Westen und die Dschihadisten: Warum die USA den Islamischen Staat ermöglichten

Nr. 36 –

Trotz «Krieg gegen den Terror» sind heute die dschihadistischen Gruppierungen stärker denn je. Das ist die Folge einer inkonsequenten US-Politik. Die USA arbeiteten weiter mit Saudi-Arabien und Pakistan zusammen, als deren Beziehungen zu al-Kaida und den Taliban bereits klar war.

Es ist schon erstaunlich, wie stark sich die aktuellen Strategien der USA im Irak und in Syrien unterscheiden. Im Irak fliegen die US-Streitkräfte Luftangriffe und entsenden MilitärberaterInnen, um die radikalislamistische Organisation Islamischer Staat (IS) insbesondere aus den kurdischen Gebieten zurückzudrängen. In Syrien besteht die US-Strategie im genauen Gegenteil, auch wenn dort der IS mindestens so bedrohlich ist wie im Nachbarland. So kontrolliert er bereits etwa ein Drittel Syriens und ist eine grosse Gefahr sowohl für die Regierung als auch für die KurdInnen im Norden des Landes.

Doch in Syrien verfolgen die USA – zusammen mit Westeuropa, Saudi-Arabien und den Golfstaaten – wie der IS das Ziel, Präsident Baschar al-Assad zu stürzen. Wenn dieser verschwindet, dann wird der IS unweigerlich profitieren, da er den Rest der syrischen Opposition entweder besiegen oder absorbieren wird. Die USA, Katar, die Türkei und Saudi-Arabien wollen glauben machen, dass sie die «moderate syrische Opposition» unterstützen. Diese wird jedoch von Tag zu Tag schwächer. In Syrien kann es nur die Armee von Diktator Assad mit dem IS aufnehmen.

Die USA unterstützen also im Kampf gegen den IS die irakische Regierung, nicht aber die syrische. Doch ist der IS im Irak nur deswegen so stark, weil er auf seine Ressourcen und Kämpfer in Syrien zurückgreifen kann. Nicht alles, was im Irak schieflief, kann dem früheren Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki angelastet werden. Seit zwei Jahren haben mir irakische PolitikerInnen immer wieder gesagt, dass die westliche Unterstützung des sunnitischen Aufstands in Syrien früher oder später den Irak destabilisieren werde. Dies ist nun geschehen.

Mit solch widersprüchlichen Strategien haben die USA dafür gesorgt, dass der IS seine Kämpfer im Irak und in Syrien je nach Bedarf verstärken kann. Washington hat eine Situation geschaffen, in der der IS überleben oder gar gedeihen kann. Die USA können vom eigenen Versagen nur ablenken, weil es Washington noch immer gelingt, der irakischen Regierung alle Schuld zuzuschieben.

Umetikettierte Dschihadisten

Bis vor kurzem haben westliche PolitikerInnen und Medien die zunehmende Stärke und Reichweite von Dschihadorganisationen in Syrien und im Irak heruntergespielt. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass Regierungen und ihre Sicherheitskräfte solche Gruppierungen nur dann als Bedrohung definierten, wenn sie direkt von al-Kaida gesteuert waren. Dadurch konnten sie den vermeintlichen Erfolg ihres «Kriegs gegen den Terror» glaubhaft machen. Doch das war naiv und ein Selbstbetrug. Sogar der Al-Kaida-Führer Aiman al-Sawahiri kritisierte den IS wegen übermässiger Gewalt und Sektierertums. Washington hat dschihadistische Gruppierungen, die eigentlich al-Kaida nahestehen, einfach als «moderat» umetikettiert, falls ihre Handlungen Ziele der US-Politik beförderten.

Im Kampf gegen das Assad-Regime in Damaskus, aber auch gegen al-Kaida-nahe Rebellen im Norden und Osten Syriens, haben die USA einen Plan Saudi-Arabiens unterstützt. Dieser sah vor, in Jordanien eine «Südfront» aufzubauen. Der Hauptbestandteil dieser Front sollte die mächtige, angeblich moderate Jarmuk-Brigade werden, und sie sollte dazu Flugabwehrraketen aus Saudi-Arabien erhalten. Aber zahlreiche Videos zeigen, dass die Brigade regelmässig gemeinsam mit einer Gruppierung aus dem offiziellen Al-Kaida-Netzwerk kämpfte. Die US-Regierung musste also damit rechnen, dass ihre Waffensysteme schliesslich bei ihrem tödlichsten Feind landen würden. Dass dies tatsächlich geschehen ist, legen irakische Beamte nahe: Sie haben bestätigt, dass sie bei IS-Kämpfern hoch technisierte Waffen gefunden haben, die ursprünglich zum Kampf gegen al-Kaida geliefert wurden.

Der Name «al-Kaida» wurde schon immer flexibel eingesetzt, um einen Feind zu bezeichnen. Als 2003 und 2004 im Irak der bewaffnete Widerstand gegen die US-britische Besatzung zunahm, schrieben US-BeamtInnen die meisten Angriffe al-Kaida zu, obwohl oftmals nationalistische und baathistische Gruppen dahinterstanden. Propaganda wie diese trug dazu bei, dass fast sechzig Prozent der US-WählerInnen vor der Irakinvasion überzeugt waren, dass es eine Verbindung zwischen Saddam Hussein und den Verantwortlichen der Anschläge vom 9. September 2001 gebe. Im Irak und in weiten Teilen der muslimischen Welt kam diese Propaganda al-Kaida zugute – dort wurde ihre durch die US-Propaganda überhöhte Rolle im Widerstand gegen die US-amerikanische und britische Invasion wahrgenommen.

2011 in Libyen wandten die westlichen Regierungen dann die gegenteilig PR-Taktik an, um den Staatschef Muammar al-Gaddafi zu stürzen: Nun wurde jegliche Verbindung zwischen al-Kaida und den von der Nato unterstützten Rebellen heruntergespielt. Der Selbstbetrug, dass diese weniger bedrohlich seien als jene, die in direkten Kontakt mit al-Kaida stehen, wurde offengelegt, als US-Botschafter Chris Stevens im September 2012 in Benghasi ermordet wurde – durch Kämpfer einer Organisation, die vorher von westlichen Regierungen und Medien für ihre Rolle im Anti-Gaddafi-Aufstand gelobt worden war.

Mafia oder Bewegung?

Schon lange ist al-Kaida viel mehr eine Idee als eine Organisation. Die Kader, Ressourcen und Camps, die es nach 1996 in Afghanistan gab, wurden nach dem Sturz der Taliban 2001 beseitigt. Danach ist aus al-Kaida in erster Linie eine Parole geworden – ein islamistisches Konzept, das die Schaffung eines islamischen Staats vorsieht, die Einführung der Scharia, eine Rückkehr zu vermeintlich alten islamischen Sitten, die Unterwerfung der Frauen und das Führen eines «heiligen Kriegs» gegen Andersgläubige, nicht zuletzt gegen die Schiiten. Im Mittelpunkt dieser Kriegsdoktrin stehen die Selbstaufopferung und das Martyrium als ein Zeichen des religiösen Glaubens und Engagements. Dadurch haben unausgebildete, aber fanatische Kämpfer als Selbstmordattentäter eine verheerende Wirkung ausgeübt.

Im Interesse der USA und anderer Regierungen stand hingegen, al-Kaida als eine Kommando- und Kontrollstruktur wie ein Minipentagon oder wie die Mafia in den USA darzustellen. Das ist ein beruhigendes Bild für die Öffentlichkeit, weil es suggeriert, dass organisierte Gruppen, egal wie teuflisch sie sein mögen, aufgespürt und durch Gefangenschaft oder Tod beseitigt werden können. Hingegen wäre es beunruhigend, hinter al-Kaida die Wirklichkeit einer Bewegung zu sehen, deren Anhängerschaft sich selbst rekrutiert und überall auftauchen kann.

Usama Bin Ladens Versammlung von Militanten, die er erst 2001 al-Kaida nannte, war vor zwölf Jahren nur eine von vielen dschihadistischen Gruppierungen. Heute hingegen dominiert das Konzept al-Kaidas die Dschihadistenszene weitgehend – dank des Prestiges, das die Bewegung durch die Zerstörung der New Yorker Zwillingstürme, den Krieg im Irak und die Dämonisierung durch Washington gewonnen hat. Mittlerweile haben sich die Überzeugungen praktisch aller Dschihadisten an die Vorgaben al-Kaidas angeglichen, unabhängig davon, ob sie offiziell zum Netzwerk gehören oder nicht.

Weil al-Kaida als Idee viel grösser ist denn als Organisation, war auch die Ermordung Usama Bin Ladens 2011 im pakistanischen Abbottabad ein eigentlich weitgehend irrelevanter Aspekt im «Krieg gegen den Terror». Zwar konnte sich Barack Obama damit in der US-Öffentlichkeit als jener Mann präsentieren, der über die Jagd auf den Al-Kaida-Führer präsidierte. Aber in praktischer Hinsicht hatte Bin Ladens Tod wenig Einfluss auf al-Kaida und die anderen Dschihadistengruppen – deren grösste Ausdehnung danach stattfand.

Die wichtigsten Entscheidungen, die al-Kaida das Überleben und die spätere Erweiterung ermöglichten, wurden in den Stunden unmittelbar nach den Anschlägen in den USA vom 11. September 2001 getroffen. Der offizielle Bericht zum Anschlag, der sich auf einen CIA-Bericht von 2002 beruft, kommt zum Schluss, dass al-Kaida bei ihrer Finanzierung von «einer Vielzahl von Spendern und Spendenaktionen, vor allem in den Golfstaaten und insbesondere in Saudi-Arabien», abhängig gewesen sei. Trotzdem hatte der damalige US-Präsident George W. Bush offenbar nicht einmal in Betracht gezogen, Saudi-Arabien für das, was passiert war, zur Verantwortung zu ziehen. Aus dem offiziellen Bericht wurden die 28 Seiten über die Beziehung zwischen den Angreifern und Saudi-Arabien entfernt. Trotz eines Versprechens Obamas wurden sie auch später nicht veröffentlicht. Begründung: Der Schutz der nationalen Sicherheit verbiete dies.

Pakistans Rolle

Wie die Enthüllungsplattform Wikileaks offenlegte, beklagte sich 2009 die damalige US-Aussenministerin Hillary Clinton in einer internen Nachricht darüber, dass Sponsoren in Saudi-Arabien die wichtigste Finanzierungsquelle von verschiedensten sunnitischen Terrorgruppen seien. Doch die USA und Westeuropa liessen Saudi-Arabien weiterhin gewähren. Jetzt, fünf Jahre später, befinden sich die von Saudi-Arabien unterstützten Gruppen auf einem Höhepunkt in ihrem extremen Sektierertum gegen nicht sunnitische MuslimInnen.

Pakistan oder vielmehr der pakistanische Militärgeheimdienst ISI war der andere Elternteil von al-Kaida, der Taliban und der Dschihadbewegungen im Allgemeinen. Als die Taliban unter dem Druck der US-Bombardierung 2001 in Nordafghanistan zerfielen, wurden noch Hunderte ISI-Mitarbeitende, die den afghanischen Taliban als militärische Ausbilder und Berater zur Seite standen, hastig evakuiert. Trotz deutlicher Beweise, dass der ISI die afghanischen Taliban und andere Dschihadisten förderte, änderte Washington seine Politik gegenüber Islamabad nicht – und ermöglichte damit das Wiedererstarken der Taliban ab 2003, das weder die USA noch die Nato rückgängig machen konnten.

Methoden eines Polizeistaats

Der «Krieg gegen den Terror» ist fehlgeschlagen, weil er nicht auf die Dschihadbewegung als Ganzes gerichtet war und, vor allem, weil er Saudi-Arabien und Pakistan als deren Förderer nicht in die Pflicht nahm. Die USA liessen die beiden Länder in Ruhe, weil sie wichtige Alliierte sind. Saudi-Arabien ist ein riesiger Markt für US-amerikanische Waffen, und die Saudis haben allerbeste Beziehungen zu einflussreichen US-PolitikerInnen aufgebaut. Pakistan ist eine Atommacht mit 180 Millionen Menschen und einem Militärapparat, zu dem das Pentagon enge Beziehungen unterhält.

Das spektakuläre Wiederaufleben von al-Kaida und ihrer Ableger geschah trotz der enormen Ausweitung der US-amerikanischen und britischen Geheimdienste und ihrer Budgets nach dem 11. September 2001. Seither haben die USA, eng begleitet von Britannien, Kriege in Afghanistan und im Irak geführt. Das Land hat Methoden eingeführt, die sonst mit Polizeistaaten in Verbindung gebracht werden wie die Gefangennahme ohne Gerichtsverfahren, Folter und Inlandsspionage. Die Begründung lag darin, dass die Rechte der einzelnen BürgerInnen eingeschränkt werden müssten, um die Sicherheit aller zu ermöglichen.

Angesichts dieser umstrittenen Sicherheitsmassnahmen sind die Bewegungen, gegen die sie eigentlich gerichtet sind, nicht schwächer, sondern stärker geworden. Heute sind Gruppen im Geist al-Kaidas zahlreicher und mächtiger denn je. Mit anderen Worten: Der «Krieg gegen den Terror», der die globale politische Landschaft seit 2001 so stark prägte, hat nachweislich versagt.

Aus dem Englischen von Markus Spörndli.

«The Jihadis Return»

Dieser Essay erschien im Original auf der unabhängigen US-amerikanischen Webplattform Tomdispatch.com. Er ist im Wesentlichen ein Auszug aus dem ersten Kapitel des neuen Buchs von Patrick Cockburn, das im Oktober im Verlag OR Books erscheinen wird: «The Jihadis Return. ISIS and the New Sunni Uprising».

Der irische Journalist Patrick Cockburn ist Nahostkorrespondent für die britische Tageszeitung «The Independent»; zuvor war er dies jahrzehntelang für die ebenfalls britische «Financial Times». Er hat drei Bücher über die jüngste Geschichte des Irak geschrieben, daneben zwei sehr persönliche Bücher zu Polio und Schizophrenie. Mit seinen Publikationen hat er mehrere Preise gewonnen.