Die Zukunft der Schweiz: An der nächsten Kreuzung links abbiegen!

Nr. 38 –

Solange die bürgerlichen Parteien keinen Kurswechsel vollziehen, wird der Siegeszug der SVP weitergehen. Ein Jahr vor den Wahlen stellt sich die Frage: Wird das Land künftig von einem bürgerlich-konservativen oder von einem bürgerlich-linken Bündnis dominiert?

Der Wahlkampf 2015 ist eröffnet. Nachdem die FDP letzten Samstag im Steuerparadies Zug bei Bier und Bratwurst Volksnähe zu inszenieren versuchte, blies Christian Levrat in der «SonntagsZeitung» zum Angriff: «Die FDP ist ein grosses Problem», so der SP-Präsident. «Sie will sich im Wahlkampf ins Lotterbett mit der faschistoiden SVP legen.» Alles nur Parteigeplänkel? Nicht nur. Ende 2015 wird sich tatsächlich eine zentrale Frage entscheiden: Wird das Land künftig von einem bürgerlich-konservativen oder von einem bürgerlich-linken Bündnis dominiert?

Die klassische Zeit des bürgerlich-linken Bündnisses ist die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die neunziger Jahre. Damals gelang es den SozialdemokratInnen, den Bürgerlichen wichtige sozialpolitische Zugeständnisse abzuringen: 1947 wurde die AHV errichtet, 1972 wurde sie ausgebaut, 1976 kam die Arbeitslosenversicherung hinzu. Überall in Westeuropa kamen die Bürgerlichen der Linken entgegen. Mit dem Krieg war offensichtlich geworden, dass der Kapitalismus nur zusammen mit einem Wohlfahrtsstaat bestehen kann, der dafür sorgt, dass alle mehr oder weniger am Reichtum teilhaben. Sonst droht er im blinden Nationalismus unterzugehen, der sich aus dem Unmut der Menschen nährt – oder im real existierenden Sozialismus, der mit der Sowjetunion zur bedrohlichen Alternative aufgestiegen war.

Auch die Unterzeichnung der bilateralen Verträge I und II mit der EU rund um die Jahrtausendwende ist diesem bürgerlichen Bündnis zu verdanken: Zusammen mit der Linken verschafften die Bürgerlichen den Schweizer Firmen Zugang zum EU-Binnenmarkt, insbesondere zu den Arbeitskräften. Im Gegenzug rang die Linke den Bürgerlichen das Zugeständnis ab, den hiesigen Arbeitsmarkt durch sogenannt flankierende Massnahmen zu schützen.

Das bürgerlich-konservative Bündnis

Der Aufstieg, den die SVP seit Christoph Blochers erfolgreichem Referendum gegen den Beitritt zum EWR 1992 hingelegt hat, ist gleichzeitig auch der Aufstieg eines alternativen Modells einer bürgerlich-konservativen Politik, die am Nationalismus des 19. Jahrhunderts anknüpft. Ihr Kern: Der Kapitalismus wird nicht durch den Wohlfahrtsstaat am Leben erhalten, sondern durch die Behauptung, dass die von ihm verursachten sozialen Probleme allesamt vom Ausland her über die Schweiz hereinbrechen würden.

Keiner verkörpert diese Ideologie besser als SVP-Übervater Blocher, der Milliardär und einstige Finanzjongleur, der sich in schwarzer Limousine von einem «Buurezmorge» zum nächsten chauffieren lässt, wo er gegen AusländerInnen, Brüssel und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wettert.

Seit 1992 hat sich das politische Koordinatensystem der Schweiz schleichend nach rechts verschoben: In der Angst, WählerInnen an die SVP zu verlieren, übertrumpfen sich bürgerliche ParteiexponentInnen seither in ihren Beteuerungen, niemals der EU beitreten zu wollen. Gemeinsam mit der SVP haben sie letztes Jahr im Parlament die zehnte Verschärfung des Asylrechts durchgepeitscht. Und die FDP hat 2012 den Scharfmacher Philipp Müller, der einst den AusländerInnenanteil auf achtzehn Prozent deckeln wollte, gar zu ihrem Parteipräsidenten erkoren.

Der 9. Februar 2014, als 50,3 Prozent der StimmbürgerInnen Ja zur «Initiative gegen die Masseneinwanderung» sagten, markiert nach dem EWR-Nein 1992 einen weiteren Meilenstein. Im Siegestaumel plant die SVP bereits zwei neue Initiativen, mit denen sie die Geltung der Europäischen Menschenrechtskonvention und das Asylrecht faktisch abschaffen will. Und: Die FDP scheint sich tatsächlich entschieden zu haben, in den Wahlen 2015 mit der SVP zusammenzuspannen. In etlichen Kantonen soll es zu Listenverbindungen kommen.

Das Ziel der beiden Parteien, die in der Bundesversammlung derzeit zusammen etwas weniger als die Hälfte der Sitze belegen: die Rückeroberung des zweiten Bundesratssitzes, der 2007 mit Blochers Abwahl an die BDPlerin Eveline Widmer-Schlumpf verloren ging. Die Exekutive soll von einem bürgerlich-konservativen Bündnis beherrscht werden.

Inzwischen stellt sich allerdings die Frage, welchen wirtschaftlichen Erfolg diese bürgerlich-konservative Politik dem Land auf Dauer bringen wird. Bis zum 9. Februar schien sicher, dass der Unternehmer Blocher niemals etwas tun würde, was der Wirtschaft schadet. Der bilaterale Weg war eine valable Alternative zum EWR. Und in den Jahren danach bekämpfte die SVP wichtige wirtschaftliche Vorlagen nur dann, wenn sie sich ihrer eigenen Niederlage sicher war. Der Oppositionskurs war lediglich Wahlkampfmittel. Seit dem Ja zur «Initiative gegen die Masseneinwanderung» gilt dies nicht mehr: Sollte es am Ende zur Kündigung der Bilateralen mit der EU führen, wäre dies für die Wirtschaft ein fataler Schlag.

Hat sich Blocher verrechnet? Ging er von einem knappen Nein aus, das als Warnschuss dienen sollte? Oder strebte er ein Ja an mit dem Ziel, nicht etwa die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte einzuschränken, sondern deren Rechte: das Recht, die Familie nachzuziehen sowie das Recht auf Sozialleistungen? Oder wurde der Unternehmer Blocher, dessen Nationalismus einst Mittel zum Zweck war, durch den Ideologen abgelöst, der seiner Vision einer Schweiz als Festung auch die Interessen der Wirtschaft opfert? Auch der Nationalismus des 19. Jahrhunderts diente der Elite anfänglich als Mittel zum Zweck, bevor er Anfang des 20. Jahrhunderts den Liberalismus und einen grossen Teil der Industrie unter sich begrub.

Die bürgerlich-linke Alternative

Angesicht der Gefahr, die der Kurs der SVP für die Wirtschaft bedeutet, regt sich unter Bürgerlichen zunehmend auch Widerstand. Eine Gruppe von jungen Menschen, die sich unter dem Namen «Operation Libero» zusammengeschlossen haben, hat im «Schweiz»-Teil der «Zeit» kürzlich ein Manifest für eine nicht nur wirtschafts-, sondern auch gesellschaftsliberale Schweiz publiziert.

Ein solcher Liberalismus ist jedoch eine Utopie. Die SVP ist genau das Ergebnis einer einseitig wirtschaftsliberalen Schweiz, die zunehmend dem globalen Kapitalismus ausgesetzt ist – und in der sich das bürgerlich-linke Bündnis aufgelöst hat, einer Schweiz, in der vom Mittelstand abwärts immer mehr Menschen von Zukunftsängsten geplagt sind. Der «Initiative gegen die Masseneinwanderung» der SVP haben in erster Linie Menschen mit tiefem Einkommen und schlechter Ausbildung zugestimmt, die von der Globalisierung überrollt zu werden drohen. Bei den Leuten mit Einkommen unter 3000 Franken monatlich lag der Ja-Stimmen-Anteil laut Vox-Analyse bei 70 Prozent gegenüber 40 Prozent bei den höchsten Einkommen. Bei Leuten, die nicht mehr als die obligatorische Schulzeit absolvierten, lag die Zustimmung gar bei 77 Prozent gegenüber 31 Prozent bei HochschulabgängerInnen.

Die Geschichte lehrt, dass jede bürgerliche Politik ein Bündnis mit der Linken eingehen muss, wenn sie verhindern will unterzugehen. Für ein solches Bündnis plädiert der Club Helvétique, in dem neben Freisinnigen wie dem Historiker Georg Kreis auch Linke wie die ehemalige SP-Nationalrätin Hildegard Fässler sitzen. Ihr Programm: eine liberale, tolerante Schweiz mit ausgeprägtem Wohlfahrtsstaat.

Doch gibt es im Parlament solche Kräfte? Obwohl die Bürgerlichen in den letzten Jahren nach rechts gerückt sind, hat der Kollisionskurs der SVP die Bürgerlichen gleichzeitig entzweit. Die BDP, die sich 2008 von der SVP abgespalten hat und nun mit der CVP zusammenspannt, versucht, sich derzeit mit Blick auf die Wahlen besonders laut von der SVP zu distanzieren. Parteipräsident Martin Landolt warf ihr wie kürzlich Levrat vor, eine «braune» Politik zu betreiben. Landolts unmittelbares Ziel ist es, zusammen mit der CVP und der Linken Widmer-Schlumpfs Bundesratssitz zu verteidigen.

Geht dies über blosse Rhetorik zum Machterhalt hinaus? BDP und CVP wollen wie die Linke die Bilateralen retten. Dazu gehören Konzessionen etwa bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder bei der Bildung, um die ausländischen Fachkräfte durch inländische zu kompensieren. Doch darüber hinaus? Letzten März halfen BDP und CVP mit, die Ausschaffungsinitiative im Sinn der SVP umzusetzen, obwohl die automatische Ausweisung delinquent gewordener AusländerInnen das rechtsstaatliche Prinzip der Verhältnismässigkeit verletzt. CVP-Präsident Christophe Darbellay stellte diese Woche im Radio zudem einmal mehr klar, dass er jegliche Fortschritte in der Sozialpolitik wie etwa die anstehende Erbschaftssteuerinitiative strikt ablehnt.

Solange die bürgerlichen Parteien keinen Kurswechsel vollziehen, wird der Siegeszug der SVP weitergehen.