Erinnern und Vergessen: «Google hat unsere Zeitorientierung neu geformt»

Nr. 38 –

In der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit entstehen ganz unterschiedliche kollektive Erinnerungskulturen. Manche zeigen den Weg in eine gemeinsame Zukunft, andere führen in nationalistische Sackgassen. Ein Gespräch mit der Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann.

WOZ: Frau Assmann, der mediale Rummel um den Ersten Weltkrieg zeigt: Geschichte erlebt gerade wieder einen Boom. Woher kommt gerade jetzt das Bedürfnis, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen?
Aleida Assmann: Es gibt ganz verschiedene Bedürfnisse, die mit einer solchen Rückwendung zur Vergangenheit verbunden sind. Zunächst ist das ja nicht neu: Im 19. Jahrhundert hat man in der Phase der Staatenbildung, in der in verschiedenen Ländern das neue Kollektivsubjekt Nation entstand, erst mal eine Kollektivbiografie erschaffen müssen. Dazu hat man sich bestimmte Episoden aus der Geschichte herausgesucht, sich selbst zugerechnet und zum verbindlichen Wissen erklärt. Man hat sich sozusagen ein nationales Gedächtnis konstruiert. In jedem Staat wurde das Lernen der eigenen Landesgeschichte und der damit verbundenen Orte zum Pflichtstoff – zum Schatz, aus dem die nationale Identität entstehen sollte.

Gehen mediale Inszenierungen wie «Anno 1914» im Schweizer Fernsehen nicht weit darüber hinaus?
Das Gedenkjahr 2014 fällt in der Tat in eine Erinnerungskultur, die erstaunliche Dimensionen angenommen hat. Da ist ein riesiger kultureller Komplex in Bewegung geraten: Zeitungen, Fernsehen, der Buchmarkt, es gibt lokale Vortragsreihen, Sonderausstellungen in Museen und Reisen zu lokalen Kriegsschauplätzen. Die Historiker spielen dabei eine grosse Rolle. Allein dieses Jahr sind bereits Hunderte von Studien zum Thema publiziert worden. Damit haben die Historiker gute Chancen, mit ihren Werken ins Allgemeinbewusstsein zu treten und das Geschichtsbild mitzuformen. Denn darum geht es im Moment sehr stark: das historische Bild des Ersten Weltkriegs umzuformen.

Inwiefern?
In Europa existieren sehr viele unterschiedliche nationale Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg. Wo in Frankreich und England die Erinnerung an die «Grande Guerre» respektive den «Great War» als tragisches Ereignis stark sind, hat man in Deutschland lange Zeit kaum dieses Kriegs gedacht – abgesehen von einer ins Heroische gewandten Erinnerung, gepflegt von jenen, die in den zwanziger und dreissiger Jahren bereits auf den Zweiten Weltkrieg losrüsteten. Im Grunde ging es in Deutschland immer um diesen Zweiten Weltkrieg, der alles wiedergutmachen sollte, was den Deutschen an Gebieten und an Selbstwertgefühl genommen worden war. Erst jetzt, im Gedenkjahr 2014, beginnt sich eine neue Erinnerungskultur zu bilden, ausgehend von Frankreich und England.

Wie äussert sich das?
Es gibt zum Beispiel Schulbuchprojekte oder Projekte zu gemeinsamen Erinnerungsorten: Sie loten das Terrain der Gemeinsamkeiten aus, das entlang der nationalen Grenzen gewonnen werden kann. Wir sind auf dem Weg, diese wahnsinnig selbstzerstörerischen nationalistischen Energien, die der Erste Weltkrieg entfesselt hat, in einem grösseren europäischen Rahmen zu betrachten und als gemeinsame Geschichte zu verstehen. Das kann Europa neu zusammenbinden – was überhaupt der ganze Sinn hinter all den Gedenkveranstaltungen ist: Wir begeben uns auf die Suche nach einer Europäisierung des historischen Gedächtnisses.

Eine historische Sinnsuche, die Sie in Ihren neusten Büchern auch als Ausdruck einer Zeitkrise verstehen: Uns sei die Geschichte als Fortschrittsnarrativ abhandengekommen …
Zunächst war da nur diese Irritation – bis mir bewusst geworden ist, was ich während meiner eigenen Lebensspanne eigentlich erlebt habe: Meine Zeitorientierung ist umcodiert worden – weg von der Zukunftsorientierung meiner Schul- und Studienzeit, in der sich alles darum drehte, Utopien zu verwirklichen, hin zu einer Rückwendung zur Vergangenheit, weil die Zukunft immer mehr zum Gegenstand von Sorge und Vorsorge wurde.

Was hat das Zukunftsvertrauen so aus der Bahn geworfen?
Wir merkten plötzlich, dass die Ressourcen knapp werden und dass wir für die Zukunft selber etwas tun müssen. Mit dem Bericht des Club of Rome von 1972 wurden die Grenzen des Wachstums immer stärker in die Gesellschaft hineinkommuniziert. Weitere Bewegungen trugen zum Bruch des Zukunftsvertrauens bei. Eine war die Erinnerung an den Holocaust, die in den achtziger Jahren mit Macht zurückgekehrt ist. Zuvor waren viele der Überlebenden nicht bereit, darüber zu sprechen. Sie waren selbst damit beschäftigt, sich ein neues Leben aufzubauen, einen neuen Staat zu gründen. Mit dem Älterwerden dieser Generation rückte dann das Bewusstsein für ihre historische und ethische Aufgabe, Zeugnis abzulegen, in den Fokus.

Und die Frage nach der historischen Schuld …
Genau. In der Aufarbeitung des Holocaust geht es darum, die Erinnerung zu bewahren als Teil der Identität, die man an die nächste Generation weitergibt. Erinnern, um nicht zu vergessen, steht hier im Zentrum. Und das ist der grosse Unterschied gegenüber 1945: Damals war man überzeugt, alles auf die Karte Zukunft setzen zu müssen. In einer Rede, die Winston Churchill 1946 an der Universität Zürich hielt, sprach er vom Bau des Hauses Europa – um den Preis des Vergessens: «Vergessen ist die Losung und die Lösung.» Wir befreien uns von der Vergangenheit und werden damit auch eine Bürde los. Denn Erinnerung ist gefährlich, sie schleppt Dinge wie Hass und Vergeltungssucht in die neue Zeit.

Gab es in andern Ländern ähnliche Entwicklungen wie in Deutschland?
Auf jeden Fall – und genau das macht das Thema Erinnerung so faszinierend. In Australien beispielsweise gibt es Bemühungen, historische Schuld in das eigene Geschichtsbild einzubauen, und zwar durch die Anerkennung der an den indigenen Einwohnern verübten Verbrechen. Dabei geht es nicht nur um die Ausrottung der Ureinwohner, sondern auch um die sogenannten «stolen generations»: Man hat den Aborigines ihre Kinder weggenommen und sie in weissen Familien untergebracht – eine Tat, die heute als Genozid eingestuft wird. Denn es ging nicht nur um die zahlenmässige Vernichtung von Menschen, sondern auch darum zu verhindern, dass sie sich reproduzieren, sich als Kultur halten und ihre Kultur weitertradieren können.

Und wie geht Australien mit dieser historischen Schuld um?
Zuerst einmal geht es ähnlich wie beim Holocaust darum, Menschen eine Stimme und ihren Stimmen einen Raum zu geben, das heisst, sie als historische Zeugnisse ernst zu nehmen. Normalerweise wird ja immer die Geschichte der Sieger tradiert, und die grenzt aus und bestimmt, was erinnert werden soll und was nicht. Die Geschichte einmal aus der Perspektive der Verlierer anzuschauen, verhilft zu einem differenzierteren Geschichtsbild. Denn es ist etwas anderes, als einfach zu sagen: «Die Aborigines haben ihr Geschichtsbild, wir haben unseres.» In einem solchen Verständnis laufen die Geschichtsbilder einfach parallel nebeneinander her; das gibt es leider auch sehr oft.

Wo hat der Umgang mit historischer Schuld nicht funktioniert?
Die USA sind ein Beispiel. Die Bürgerrechtsbewegung in den sechziger Jahren war getragen von der Erinnerung an das schwarze Trauma der Sklaverei. Auch sie kämpfte darum, die Geschichte der Schwarzen wahrzunehmen – und zwar als Teil des amerikanischen Narrativs. Martin Luther King und Malcolm X betonten immer wieder, dass das weisse Amerika anerkennen müsse, dass die Schwarzen Teil der US-Geschichte sind und dass diese Geschichte eine Geschichte der systematischen Unterdrückung ist, der sich die Gesellschaft als Ganzes annehmen muss. Das hat in den USA bis heute nicht wirklich stattgefunden. Stattdessen baut man Black-Studies-Departemente und andere universitäre Abteilungen für Minderheiten, die dann ihre Geschichte je separat aufarbeiten können.

Mit den Affirmative-Action-Programmen ist in den achtziger Jahren versucht worden, diese historische Schuld mit der spezifischen Förderung von Schwarzen aufzuarbeiten. Doch diese Programme werden zurzeit überall rückgängig gemacht.
Diese Entwicklung ist wirklich erschreckend. Themen wie Affirmative Action oder Identitätspolitik sind in den USA total negativ besetzt: Man sieht darin nur einen Kulturkrieg. Damit erhöht sich auch das Potenzial der gegenseitigen Aggression und Ablehnung, wie wir gerade wieder in den Unruhen in Ferguson verfolgen konnten.

In Südafrika verlief die Entwicklung nach dem Ende des Apartheidregimes weniger konfliktträchtig. Weshalb?
Die Wahrheits- und Versöhnungskommission, die auf Erfahrungen früherer Wahrheitskommissionen in Südamerika zurückgreifen konnte, hat hier eine Schlüsselrolle gespielt. Wenn sich ein autokratisches System in eine Demokratie wandeln soll, kann dieser Übergang nur über eine historische Kommission gelingen, die zwischen Staat und Zivilgesellschaft vermittelt, eine Wahrheitskommission, die aufklärt, versöhnt und eine gemeinsame Identität entstehen lässt. In dieser Phase des Übergangs wird die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit absolut zentral. Das Ziel ist, etwas in Erinnerung zu rufen, um es zu bewältigen. Es geht darum, die Vergangenheit aufzuarbeiten, zu integrieren und dann gemeinsam weiterzugehen.

In Russland scheint dieser historische Aufarbeitungsprozess um einiges schwieriger zu sein – immerhin wird Stalin plötzlich wieder als Held gefeiert.
Das war nicht immer so. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als die Zensur wegfiel, erblühten zahlreiche historische Untersuchungen zu bislang tabuisierten Themen wie den Verbrechen Stalins. Leider aber zog sich die Schlinge sehr schnell wieder zu, denn die Nation musste sozusagen neu erfunden werden. Es galt, den Kommunismus quasi ungeschehen zu machen. Die Revolution wurde aus den Geschichtsbüchern gestrichen und eine mehr oder weniger fiktive Geschichte aus dem 16. oder 17. Jahrhundert an ihre Stelle gesetzt. Auch Stalins Säuberungen, Deportationen und das Terrorjahr 1937 sind völlig von der Bildfläche verschwunden. Das Bild von Stalin, das aktuell präsentiert wird, eliminiert all seine despotischen Züge und fixiert ihn in der Erinnerung stattdessen als Sieger über Hitler und den Faschismus. Deswegen ist auch das Jahr 1945 ins Zentrum der russischen Erinnerungskultur gerückt: Mit diesem moralisch völlig unstrittigen Erfolg der Roten Armee, der quer durch Russland jeweils am 9. Mai gefeiert wird, hat das Land eine neue historische Einigungsformel gefunden.

Warum ist dies im Zeitalter des Internets, das die totale Erinnerung in greifbare Nähe rückt, überhaupt noch möglich?
Das menschliche Gedächtnis ist kein Speicher, der alles fassen könnte, es ist ein Filter- und Steuerungsinstrument. Erinnern darf man sich nicht ohne Vergessen vorstellen, da steckt immer eine Entscheidung dahinter. Während im Internet tatsächlich keine räumlichen Beschränkungen existieren, ist der Platz im Gedächtnis beschränkt, deshalb wird umgeschichtet, ummöbliert wie in einem Zimmer. So kann es sein, dass nach einem politischen Systemwechsel nichts an seiner ursprünglichen Stelle bleibt.

Welche Rolle spielt das Internet für den Umgang mit Geschichte. Schafft es eine neue Erinnerungskultur?
Oh ja, durchaus. Die digitalen Medien, die seit den achtziger Jahren zunehmend in unseren Alltag eingedrungen sind, haben unser Vertrauen in die Zukunft besonders nachhaltig aus der Bahn geworfen. Google hat unsere Zeitorientierung und unser Gedächtnis neu geformt.

Wie meinen Sie das?
Nehmen wir Wikipedia als unser gemeinsames Google-Gedächtnis: Die Geschichte, die sich darin ablagert und immer wieder bearbeitet wird, beginnt nicht erst mit jenem Sicherheitsabstand zur Gegenwart, den wir früher einhielten. Mit Wikipedia halten schon Ereignisse, die keine 24 Stunden zurückliegen, Eingang in das Archiv und werden zu Geschichte, einer Geschichte allerdings, die noch gar nicht aufgearbeitet ist und mitunter nichts weiter als eine heisse Schlagzeile ist. In diesem Geschichtsbuch steckt noch ganz viel Leben und Unbewältigtes. Und es ändert sich konstant: Jeden Tag gibt es eine neue Version.

Und wie beurteilen Sie das?
Das Gute daran ist, dass man diese Versionen verfolgen kann, man sieht immer, was geändert wurde. Eigentlich ist Wikipedia eine wunderbare Neuerung, weil wir uns global über unsere Geschichte verständigen können – mit grosser Transparenz, weil wir den Prozess, wer mitredet, mitverfolgen können. Klar wird da auch manipuliert – mitunter von unserem Nichtwissen gesteuert. Aber es ist ein Raum, in dem sich alle darüber verständigen können.

Aleida Assmann

Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann (67) ist Professorin für Anglistik an der Universität Konstanz und erforscht seit den neunziger Jahren die verschiedenen Formen des kulturellen Gedächtnisses. Zuletzt erschien von ihr «Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne» (Hanser, 2013) und «Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention» (C. H. Beck, 2013). Für ihre Forschung ist Assmann vielfach ausgezeichnet worden, so 2014 mit dem A.-H.-Heineken-Preis für Geschichte der Königlich-Niederländischen Akademie der Wissenschaften.