Geschichte von rechts: Die Rückkehr der Mythen

Nr. 38 –

Geschichte wird von rechtspopulistischen Parteien gerne als sinn- und identitätsstiftende Erzählung gebraucht. Sie soll das Wirgefühl stärken. Im Fokus ist dabei nicht die Gesellschaft, sondern die nationale Gemeinschaft.

Mythen seien Geschichten, so der deutsche Philosoph Hans Blumenberg, über deren Umweg die Bedeutsamkeit der Welt erschlossen werde. An solchen Sinndeutungen und Erklärungsangeboten wird gebastelt und gearbeitet. Sie werden an Jubiläen, Feiertagen und Erinnerungsorten zelebriert, mit Vorliebe öffentlichkeitswirksam inszeniert und massenmedial vermittelt. Mythen müssen trotz ihrer Helden einen konkreten Bezug bewahren, aber auch Allgemeingültigkeit und Zeitlosigkeit repräsentieren. Damit gehören sie zum Werkzeugkasten der Geschichtspolitik, werden von verschiedenen AkteurInnen als begehrte Utensilien im umkämpften Erinnerungswettbewerb genutzt. Das mythologisierende Sicherinnern wird so zum Intervenieren ins Politische, wo gesellschaftliche Verbindlichkeiten wie auch emotionale Bindungen und moralische Vorstellungen ausgehandelt werden.

Kulturkampf von rechts

Das Hegen und Pflegen von Mythen ist auch zu einem Steckenpferd der neuen rechtspopulistischen Parteien geworden, jener Parteien, die seit Anfang der neunziger Jahre mit ihrer Politik der Aus- und Abgrenzung in fast allen europäischen Ländern zum Teil massive Wahlerfolge verbuchen. Nicht nur Migration, EU, Sicherheit und Ordnung, sondern auch Geschichte und Erinnerung, Vergangenheit und Gedächtnis gehören zu ihren bevorzugten Themen. Mit Verve beteiligen sie sich an Auseinandersetzungen um historische Selbstverständigung, mit dem geschichtspolitischen Ziel, Vergangenes dazu zu nutzen, Bestehendes zu legitimieren oder noch nicht Erreichtes einzufordern.

Es scheint, dass die RechtspopulistInnen von heute von den Intellektuellen der französischen Nouvelle Droite von gestern gelernt haben. Wichtig ist ihnen, die Köpfe und das Denken der Menschen zu erreichen, auch mit kulturellen Strategien und historischen Deutungsangeboten. «Gramscisme de droite» nannten Alain de Benoist und seine MitstreiterInnen dies im Paris der siebziger Jahre: Nach dem Mai 1968 sollte nun der «Kulturkampf von rechts» beginnen.

Auffallend ist, wie nach der Wendezeit von 1989 der Aufstieg des Rechtspopulismus mit der Intensivierung von Erinnerungskonflikten und geschichtspolitischen Debatten einherging. Ob in der Schweiz, Österreich, Italien oder Ungarn, seit den neunziger Jahren haben sich die «Kaskaden der Vergangenheit», wie es der deutsche Historiker Arnd Bauerkämper nennt, beschleunigt: Von den Jubiläen und Kontroversen zum Zweiten, dann zum Ersten Weltkrieg, und von den transnationalen Erinnerungsbemühungen über die Schoah zu den geschichtspolitischen Auseinandersetzungen um koloniale Vergangenheiten. Es entsteht der Eindruck, das verstärkte Interesse, gar die Faszination für Geschichte stehe gleichsam für eine neue Suche nach gesellschaftlichen Utopien und politischen Visionen.

Mit der Politisierung von Erinnerung und Gedächtnis als zentrale Momente kollektiver Selbstvergewisserung eröffneten sich den rechtspopulistischen AkteurInnen fruchtbare Handlungsfelder. Es geht ihnen darum, mit identitätspolitischen Strategien ein gemeinsames Selbstverständnis anzubieten, das Wirgefühl zu stärken. Interessenpolitik ersetzen sie durch Identitätspolitik, Gesellschaft durch Gemeinschaft. Im Zeitalter der Entnationalisierung präsentieren sie sich als verlässliche Verteidiger der nationalen Gemeinschaft, setzen auf kollektive Identifikation als Wegweiser für individuelle Orientierung, bieten nationale Mythen als sinn- und identitätsstiftende Narrative an, als Anleitungen zur Entschlüsselung des globalen Hier und Jetzt.

Erst kürzlich versuchte Viktor Orbans Fidesz-Partei im Zusammenhang mit einem Denkmal in Budapest zur deutschen Besetzung Ungarns 1944, den nationalen Opfermythos wiederzubeleben. Auch in Österreich tritt die FPÖ kontinuierlich den inzwischen bedeutend selbstkritischeren Geschichtsdebatten zum Anschluss ans Dritte Reich entgegen, um weiterhin das Opfernarrativ zu beschwören und eine deutschnationale Erinnerungskultur fortzuführen. In Italien war es das rechtspopulistische Parteienlager, das massgeblich dazu beitrug, dass revisionistischen Interpretationen des Faschismus in der öffentlichen Mythenproduktion wieder mehr Platz eingeräumt wurde.

In den Fussstapfen Schwarzenbachs

In der Schweiz hatte bereits James Schwarzenbach, einer der ersten rechtspopulistischen Politiker Europas und promovierter Historiker, die ausserordentliche Bedeutung von Gedenkfeiern und Erinnerungsorten erkannt. Für seine 1.-August-Reden, die grosse Menschenmengen anzogen, wählte er geschichtsträchtige Orte, mit Vorliebe ehemalige Schlachtfelder wie Sempach, Murten, Grauholz oder Forch. Dort beschwor er sprachgewaltig eidgenössische Mythen wie beispielsweise Winkelried, den er als Vorbild für ein «geschlossenes Antreten» gegen eine «gefährliche Übermacht» anpries.

Oft wird auch vergessen, dass der 1891 in Anspielung auf den vermeintlichen Bundesbrief von 1291 zum nationalen Gedenktag erkorene 1. August aufgrund einer eidgenössischen Volksinitiative der Nationalen Aktion zum schweizweit arbeitsfreien Feiertag wurde. Für NA-Nationalrat Markus Ruf, den Initianten des gleichlautenden parlamentarischen Vorstosses, war es klar, dass die «Aufgabe des Nationalfeiertages» darin bestehe, das «gemeinsame Staatsbewusstsein» zu stärken und die «Lösung der künftigen Probleme» zu fördern, sodass auch in der Schweiz «eine gebührende patriotische Ehrenbezeugung» stattfindet.

Mit dem Wandel zur rechtspopulistischen Partei in den neunziger Jahren trat die Schweizerische Volkspartei in die geschichtspolitischen Fussstapfen Schwarzenbachs und der Nationalen Aktion. Als die «Krise der Gedächtnisorte» (Jakob Tanner) auch die Schweiz erreichte und im Zuge der Debatten über die Rolle der Schweiz zur Zeit des Nationalsozialismus lang gehegte nationale Mythen wie «Reduit», «bewaffnete Neutralität» oder «humanitäre Tradition» ihre Wirkungsmacht verloren, begann die SVP zusehends ihre identitätspolitischen Ziele an geschichtspolitische Strategien zu koppeln.

Geschichtspolitik mit Marignano

Insbesondere die Beschwörung des neuen Bedrohungsbildes Europäische Union bei gleichzeitiger Valorisierung des «Sonderfalls Schweiz» sollte die Notwendigkeit des handlungsleitenden Blicks in die Vergangenheit hervorstreichen, oder wie es Christoph Blocher 1997 in seiner «Klarstellung» zum Zweiten Weltkrieg formulierte: «Wenn wir aus der Geschichte lernen, sollten wir erkennen, dass konsequente Gegenwehr dort, wo wir von unserem Recht überzeugt sind, mehr bringt als schrittweises Nachgeben, das zu weiteren Forderungen verleitet.»

Auch die bisherige Planung der Festivitäten zum 500-Jahr-Jubiläum der Schlacht von Marignano steht ganz unter geschichtspolitischen Vorzeichen, dem Zelebrieren einer längst zur Leerformel geronnenen Neutralitätspolitik, deren alteidgenössische Ursprünge die historische Forschung seit langem ins Reich der Mythen und Legenden verwiesen hat. Es ist zu hoffen, dass die von Rechtspopulisten betriebene Strategie, Mythenbildungen mit Bedrohungsfantasien und Abgrenzungs- und Isolationsstreben zu verknüpfen, keine Anhängerschaft in der breiten Öffentlichkeit und Politik findet, auch nicht bei den besonders an der Visualisierung und Inszenierung von Vergangenheit interessierten Medien. Vielmehr sollte über die politisch-sozialen Funktionen von Mythen diskutiert und nach den geschichts- und realpolitischen Interessen rechtspopulistischer Erinnerungsarbeit gefragt werden.

Damir Skenderovic ist Professor für Zeitgeschichte 
an der Universität Fribourg.