Mica Levi: Sie dreht Schrauben und dirigiert Symphonieorchester

Nr. 43 –

Kaum jemand hat in so kurzer Zeit so relevante und neuartige Musik produziert wie Mica Levi und ihre Londoner KomplizInnen. Zuweilen wird sogar brav Pop gesungen, doch dann ist sogleich wieder der Teufel los.

Wie unfassbar muss der Innenraum dieses Kopfs, dieses Gemüts, dieses Herzens, dieser Fantasie sein? Was alles an konfusen und präzisen Ideen hat sich im Schädel dieser 27-Jährigen zusammengefunden? 

London, Denmark Street, die alte Rockmusikerstrasse. Links und rechts und oben und unten nichts als Gitarren und Verstärker bis zum Abwinken. Ich frage einen der Verkäufer nach einer Band namens Micachu and The Shapes. Keiner der Musikexperten will davon etwas gehört haben, auch der Chef nicht. Bloss eine Kassiererin zückt ihr iPhone und checkt: Ja, davon habe sie schon was gehört. Micachu klingt wie Niesen. In drei Tagen auf Londons Strassen hatte ich etwa fünfzig Passanten belästigt. Mit einem Pappkarton und der Aufschrift «Hello Micachu – where are you?» Und auf der Rückseite: «Sorry – I’m Swiss!». Nur ganz wenige reagierten überhaupt auf den Karton, darunter, immerhin, ein erfreuter Micachu-Fan. Einer! Der ganze Rest von London weiss scheinbar noch nichts von ihr.

Mica Levi besuchte die Guildhall School of Music and Drama, gegründet 1880. Schon mit 21 komponierte sie fürs London Philharmonic Orchestra. Das Stück wurde 2008 in der Royal Festival Hall aufgeführt. Wenig später sieht man Mica in einer unübersichtlichen, versifften, bis unters Dach vollgestopften Eisenwarenhandlung. In der Nachbarschaft, wo Mica acht Jahre Viola studierte. Jetzt sieht man sie nach fetten Schrauben suchen, eine Schnute ziehend. Mica hat eine prima Auswahl von Schnuten – vom Normalogrinsen über ein schräges Zweifeln bis zum abfälligsten Missfallen. Dabei verzieht sie den Mund bis hinter die Ohren. Anderntags sieht man das Resultat auf Youtube: Mica und Drummer Marc Pell drehen senkrecht Schrauben in kleine Holzschachteln. Darauf spannen sie Drähte, spielen damit Melodien, Marc kratzt den Beat, und fertig ist die Protogitarre.

Viele Welten und ein Staubsauger

Micachu and The Shapes, die scheinbar unscheinbare Holterdiepolter-Minicrew, zu der noch Raisa Khan gehört, gewinnt allmählich die Form eines Konzerns. Neue Songs, Auftritte, Kooperationen, Solo-DJing by Mica und Offerten nach Übersee häufen sich. Was dieses Trio in und an die Hand nimmt, nimmt Gestalt an. Es zaubert und verzaubert weiter. Es ist nicht nur die äusserst lose, aber bestechende Qualität der Songs, es ist auch die Geschwindigkeit, mit der sich das Micachu-Wesen seit sechs Jahren ausbreitet. Jeder Song ist anders, und jeder hat was Gewisses. Und der Drive des Projekts nimmt an Tempo zu. Erinnert euch: So fing das an mit Punk.

Micachu and The Shapes bewegen sich zunehmend lockerer zwischen vielen Welten. Gibt es ein Instrument nicht, das sie eigentlich brauchen könnten, fangen sie selbst an, es zu bauen. Die Band hat mittlerweile ein Sammelsurium an modifizierten Geräten. Der Einsatz des Staubsaugers etwa erweist sich als grosser Gewinn. Auch Micas akustische Gitarre hat eine Geschichte: bestückt mit Sensoren, die an Verstärker geleitet werden. Man kann zuschauen und zuhören, wie sich drei Einzelne zusammentun und mit Schrott und Alltagsgegenständen von Hand ihre Werkzeuge zusammensuchen. Micachu and The Shapes, die patenteste neue Popband.

Berg-und-Tal-Fahrt

«Jewellery» – was für ein Albumtitel für reinsten Trashpop – hiess das Debüt von 2009. Die Sause beginnt auf einem Rummelplatz, mündet in eine rasende Berg-und-Tal-Fahrt, die Schrauben locker, die Riemen gelöst, und das Ganze bewegt sich auch noch rückwärts. «Sweetheart» beginnt süss und mit 45 Umdrehungen pro Minute. Wer dazu tanzt, braucht Tranquilizers. Bei «Curly Teeth» ist wohl Micas Zahnstellung das Thema. Und «Golden Phone» schleicht sich harmlos ein mit Chor, auch Mica singt brav Pop. Doch gleich ist wieder der Teufel los.

Der zweite Streich ist die Kooperation mit der London Sinfonietta: «Chopped & Screwed» (2011) – sehr experimentell, heavy und lustig. Man könnte meinen, Micachu und die Sinfonietta hätten es darauf abgesehen, den Strassenlärm zu imitieren – den Verkehr, das Hupen, die Menschenstimmen. Kurz: Alles, was in einem Konzertsaal ausgeblendet wird, wird hier paradoxerweise wieder hineingebracht, aufgeführt und abgefeiert.

Die dritte und letzte reguläre Platte ist «Never» (2012). «Nichts» und «nie» – Wörter, die Mica häufig verwendet. Dazu kann man sich Mixtapes vorstellen, Raps, Grime-Sounds, abenteuerliche Dissonanzen. Wie die «Filthy Friends»-Kassette, die Mica Levi mit Ghostpoet und anderen Freunden 2009 fertigte. Oder die zwei Kwesachu-Mixtapes, die sie mit Kwes veröffentlicht hat, der mit Damon Albarn und vielen anderen arbeitete und übrigens ein wundervolles Soloalbum auf Warp veröffentlicht hat. Oder die kurligen Clubtracks, die Mica mit der Sängerin Tirzah schafft (siehe «Tirzah und Mica»).

Schmerzlich alarmierend

Ob das Musik ist? Ja klar. Es sind organisierte, strukturierte Klänge – also Musik. Man kann es als Lärm verstehen oder als Musik, sicher ist es beides. Aber verstehen wir es? Sollen wir hören, was wir bisher nicht vernahmen? Und dann, 2013, komponiert Mica Levi den Soundtrack für Jonathan Glazers Film «Under the Skin» mit Scarlett Johansson. Ein wunderschönes Alien, das durch Glasgow wandert und Männer auffrisst. In mehreren Titeln der Partitur taucht das Wort «void» auf, die Leere. In der Fantasyszene steht Void für Comics, Fanzines, Science-Fiction, in der modernen Kunst ist Void ein skulpturales Konzept und im Recht etwas, das keinen Effekt hat. 

Einige Passagen des Soundtracks klingen so, als würden alle Menschen miteinander und aneinander vorbeireden. Es ist das schmerzlich Alarmierende von drei sich immer wieder jäh aufschwingenden Tönen, das diese Verzweiflung markiert:«Lips to Void». Mica küsst die Leere. Im Sommer 2014 führte sie den Soundtrack live auf – Mica Levi dirigierte an diesem Abend das London Philharmonic Orchestra.

Kaum jemand hat in so kurzer Zeit so bedeutsame, umwerfende, neuartige, aufwühlende, irritierende, krasse, völlig unerwartete Musik produziert. Wie man das alles nennen soll? Definitiv Pop. Experimental Pop? Aber auch schwer «Under the Skin». Ob es einen einzigen Begriff gebe für das, was Micachu umschreibe? Mica wiegelt ab: «Ich würde sagen Play Pop, vielleicht auch Hillbilly Pop?» Drummer Pell kringeln sich die Zehennägel. Jemand fragt Mica, was für Instrumente sie bisher erfunden habe. Mica sagt: «Oh, damit habe ich erst angefangen.» Mehrere Songs beendet Levi mit dem beiläufigen Fluch: «Smash it all.»

Tirzah and Micachu spielen am 29. November 2014 an der «Kilbi an der Grenze» in St. Gallen.

Mehr Infos: www.kilbi-an-der-grenze.ch.

Tirzah und Mica

«I’m not dancing / I’m fighting»: Dies singt Tirzah über einem billigen Geradeausbeat. Doch natürlich ist es nicht so einfach, denn es rumpelt, und der Rhythmus ist verschoben, während eine Flöte halbschlau in den Raum bläst, kurz: Hier läuft etwas schief. Mica Levi hat das Titellied von Tirzahs erster EP, «I’m Not Dancing», produziert. Diese dauert nur wenig mehr als zehn Minuten, doch wieder einmal sabotiert die MusikerInnenzelle um Mica Levi die Konventionen der Popmusik. Tirzah singt scheinbar gelangweilt, entfremdet und kaum präsent und schafft so eine Distanz zur direkten Produktion von Micachu.

Seit «I’m Not Dancing» sind Mica Levi und Tirzah ein Team. Im Frühling 2014 veröffentlichten sie die ebenso kurze, doch nachdenklichere und dunklere EP «No Romance» und mischten ein abenteuerliches Radio-DJ-Set, das zum Verquersten und Lohnenswertesten zählt, was das Musikjahr bisher zu bieten hat. Hier spielten sie auch einen Track von Tricky an, der alles Verspielte kurzzeitig im Keim erstickt. Die Reverenz blieb nicht einseitig, sang Tirzah doch zwei Songs auf dem aktuellen Album «Adrian Thaws» des Trip-Hop-Urahnen aus Bristol 
ein.

Benedikt Sartorius