Buch «Wir haben Raketen geangelt»: Wenn die Zeit sich dehnt wie ein Kaugummi

Nr. 49 –

Die gelernte Schauspielerin und Traumkosmonautin Karen Köhler erzählt in ihrem Prosadebut Geschichten von Krankheit, Tod und Gewalt – und das alles mit einem unverwüstlich optimistischen Grundton.

Meist übermütig angelegte, immer fesselnde Erzählungen: Karen Köhler. Foto: Julia Klug

Das von der Autorin verantwortete Cover wirkt verspielt: ein Sternenhimmel, unter dem, der Grösse nach gereiht, Getier aufmarschiert, vom Insekt über heimische Waldbewohner bis hin zum Braunbär, terrestrische Stellvertreter der kosmischen Lenker. Und auch die Titel der Erzählungen erinnern an Kinderspiele: «Cowboy und Indianer», «Name. Tier. Beruf.» oder eben das titelgebende «Wir haben Raketen geangelt».

Doch «les jeux sont faits». Die Zeit der Spiele ist für die ProtagonistInnen vorbei in Karen Köhlers Erzählungsband, mit dem die 1974 in Hamburg geborene gelernte Schauspielerin, die als Kind davon geträumt hat, Kosmonautin zu werden, beim Klagenfurter Wettlesen hätte reüssieren sollen. Sie konnte krankheitsbedingt nicht kommen, und so blieb die gar nicht so fröhliche Geschichte von einer jungen krebskranken Frau, die sich in einem Spital als «Beuteltier» mit ihrem künstlichen Darmausgang, der nächsten Chemotherapie und der vermeintlichen Untreue ihres Freundes quält, ungehört. Vollendete Vergangenheit, die, zumindest für «Il Comandante», der die Patientin aufzuheitern versteht, in einer vollendeten Zukunft endet.

Stets im Ausnahmezustand

Die vollendete Zeit spielt in den Erzählungen, die manchmal nur aus Miniaturen zusammengesetzt oder als Postkartenperlen aufgereiht sind, eine zentrale Rolle. Weniger geschichtsphilosophisch aufgeladen, sondern generationentypisch kühler, wissenschaftlich verbrämt und der Hirnforschung entlehnt: Wir leben «permanent in der Vergangenheit. 0,3 Sekunden zu spät. Wir sehen nicht das, was wirklich da ist, sondern das, was nach Auswertung der Reize, die im Hirn ankommen, von unserem Unterbewusstsein als Wirklichkeit konstruiert wird.»

Diese dehnbaren 0,3 Sekunden, die das Gehirn zur Wirklichkeitskonstruktion benötigt, vom Wahrnehmungsimpuls bis zur Erkenntnis, fängt Karen Köhler in ihren Geschichten ein, die stets aus der Ich-Perspektive unterschiedlicher ProtagonistInnen erzählt werden. Die eine Woche, die der Freund der Krebspatientin benötigt, um sich der neuen Situation zu stellen; den Monat, den «Polar» in Abstand zur Geliebten geht und mit bunten Ansichtskarten aus Italien füllt, oder die 27 Tage, die eine Frau auf einem Hochsitz im Wald protokolliert, ohne Nahrung und mit schwindenden Kräften.

Es handelt sich immer um Ausnahmesituationen: Krankheit, der Verlust eines Menschen, Gewalterfahrungen. In «Cowboy und Indianer» ist es nach einem Raub und einer Odyssee durch die Wüste die Begegnung mit dem Indianer Dan, die die Erinnerungsmaschine der Protagonistin in Gang setzt und traumatische Erlebnisse aus der Kindheit aufruft. Und in der Groteske «Starcode Red», die vom Leben einer Entertainerin auf einem Kreuzfahrtschiff handelt – ArbeiterInnen auf der einen, «Freizeithabende» auf der anderen Seite –, wird ein Landausflug zum Anlass, aus dem unwürdigen «Quallenkostüm» auszusteigen. Den Ausstieg in Form des Exodus wagt auch die «an der dunkelsten Stelle des Stundenglases» angekommene Frau, der das «Du» abhandengekommen ist und die die Beziehung zu anderen Menschen gekappt hat.

Die Zeit auf ihrer Seite

Bestechend an den jeweils sehr eigenständigen Geschichten sind nicht nur die fantasiefreudig entworfenen Situationen, sondern insbesondere die oft nur mit wenigen Strichen und eindrücklichen Bildern hingeworfene Dramatik der existenziellen Lage: «Sheila hatte alle Farben mit nach Kamerun genommen», heisst es an einer Stelle. Eine Protagonistin wühlt im Müll des Geliebten, um ihm so nahe zu sein. Eine andere fühlt sich mit ihrer dementen Schwester als «Verbündete im Kampf gegen 50 Joghurts im Kühlschrank. Gegen verlegte Schlüssel, Portemonnaies und drei nagelneue Bügeleisen im Kleiderschrank». In einer anderen Miniatur «knabbert sich das Dorf um den Bach, die ersten Häuser beissen zu», und ein Rollladen wird zum «Hausaugenlid, das sich müde schliesst».

Bei all dem ausweglos scheinenden Leben behält die Autorin einen unverwüstlich optimistischen Grundton bei, denn sie weiss die Zeit auf ihrer Seite, diese langen 0,3 Sekunden, die es braucht, um sich in eine Wirklichkeit zu katapultieren, in der es sich aushalten lässt, selbst für die in der sibirischen Wüste ausharrende Asja, die ihre ganze Familie verloren hat. Diese Zeit kann sich dehnen «wie Kaugummi, aus dem der Geschmack entwichen ist», sie kann eindicken, bis man unter ihrem Gewicht «ganz krumm» wird. Aber sie «fliesst nur in eine Richtung. Nur nach vorn. Nur in die Zukunft», danach strebend, «die Dinge von einer hohen energetischen Ordnung in einen möglichst niedrig aufgeladenen Zustand zu überführen».

Von diesem Prozess energetischer Umwandlung leidvoller Erfahrung handeln Köhlers an manchen Stellen fast ein bisschen altklug wirkende, meist aber übermütig angelegte und immer fesselnde Erzählungen, die mit ihrem spielerischen Charakter die berufliche Herkunft der Autorin nicht verleugnen. Die Vergangenheit ist vollendet, Klagenfurt erledigt, und die Zeit strebt, wie gesagt, nur nach vorn. Und gerne würde man da weiterhin solch singuläre Geschichten angeln.

Karen Köhler: Wir haben Raketen geangelt. Erzählungen. 
Hanser Verlag. München 2014. 237 Seiten. Fr. 28.90