Philosophie 2: Zur grossen, nackten Wahrheit wandern

Nr. 51 –

Kluge Menschen haben kluge Dinge zur Wahrheit gesagt: «Die beste und sicherste Tarnung ist immer noch die blanke und nackte Wahrheit. Die glaubt niemand!», schrieb Max Frisch. «Es ist eine alte Wahrheit, dass man in der Politik oft vom Feinde lernen muss», sagte Lenin. «Der Mensch macht die Wahrheit gross, nicht die Wahrheit den Menschen», lehrte Konfuzius. – Alles Männer. Weil Journalismus schnell gehen muss und doch gescheit wirken soll, klaut man gescheite Sätze. Etwa aus einer Zitatensammlung. Das sind auch Wahrheiten – das Klauen und dass Zitatensammlungen fast nur Männer zitieren.

Doch die Wahrheit an und für sich lässt sich damit nicht ergründen. Es würde reichen zu wissen, wie wahr Journalismus ist. Wer schreibt, weiss, dass er nur eine von vielen Wahrheiten beschreibt. Die Leute sagen hundert Sätze, wir bringen davon zwei. Wir sind die DramaturgInnen unserer Geschichten, suchen das Personal aus, das darin auftreten darf. Die GegnerInnen zitieren wir mit ihren ungünstigsten Aussagen, die Gleichgesinnten mit den brillantesten Sätzen. Das ist vielleicht manipulativ, aber nicht unwahr.

Die «Weltwoche» pflegt die verführerische Losung «Schreiben, was ist». Die Wahrheit zu besitzen, produziert ein wohliges Gefühl und schnackigen Prangerjournalismus. Nur wird es langweilig, wenn JournalistInnen stets schreiben, was sie schon längst wissen. Irgendwann hat man alle Feinde erledigt, der Erkenntnisgewinn sinkt auf null. Da findet sich keine Wahrheit mehr.

Sie sitzt irgendwo da draussen am Rand. Wenn man die Komfortzone verlässt, gibt es Überraschungen: Es ist immer alles anders, als man vorher gemeint hat – besser vielleicht, oft schlechter, stets bunter, aber nie, wie man glaubte, dass es sein sollte. Und da hockt sie dann irgendwo, die Wahrheit, das unstete Wesen. Immer bereit, sich davonzuschleichen. Also wandern wir hinterher und enden mit dem klugen, geklauten Satz von Christian Morgenstern: «Die zur Wahrheit wandern, wandern allein.»

* Wunsch von 
Rebekka Köppel: «Was ist Wahrheit?»