«Prossima fermata Bellinzona»: Ein Streik wird auf die Bühne getragen

Nr. 3 –

In einem Stück über 150 Jahre Bahngeschichte geht das Teatro Sociale in Bellinzona dem Tessiner Lebensgefühl auf den Grund.

Die Eisenbahn hat für Bellinzona einen Stellenwert, der weit über die Funktion eines Transportmittels hinausgeht. Das ist spätestens seit dem Streik des Jahres 2008 in den hiesigen SBB-Industriewerken bekannt. In ungewohnter Einig
keit verteidigten die TessinerInnen damals nicht nur Hunderte von Arbeitsplätzen, sondern auch ein Stück Identität. Das italienischsprachige Theaterstück «Prossima fermata Bellinzona» (Nächster Halt Bellinzona), das nun im Teatro Sociale in Bellinzona Premiere feiert und noch bis 18. Januar gespielt wird, will dem Lebensgefühl der Menschen in der Leventina auf den Grund gehen. In einer Mischung aus dokumentarischem Theater und Drama lassen Flavio Stroppini und Monica De Benedictis darin die realen ProtagonistInnen zu Wort kommen.

«Manchmal muss man schauen, wo man steht, um zu verstehen, wo es hingeht», sagt der Theatermacher Flavio Stroppini über sein Bühnenstück. Das Schauspiel solle die Gelegenheit geben innezuhalten, bevor grosse Veränderungen die Bahnbranche im Tessin bestimmen. Mit «Prossima fermata Bellinzona» will das Autorenduo einen Blick in die Zukunft nach Eröffnung des Gotthardbasistunnels werfen, samt den damit verbundenen Hoffnungen und Ängsten, aber auch 150 Jahre Bahngeschichte auf die Bühne bringen – das alles in neunzig Minuten. Ein ambitioniertes Unterfangen, wie ihnen bewusst ist: «Unsere Absicht war, selbst keine Wertungen vorzunehmen, sondern die Wahrheiten der Beteiligten unverfälscht wiederzugeben.» Herausgekommen ist ein, wie Stroppini es sagt, «volkstümliches Stück», das diverse Theatergenres in sich vereint.

Haushalte und Archive durchforstet

So bringen fünf SchauspielerInnen und zwei Musiker eine rein fiktionale Geschichte auf die Bühne, die wiederum als Gefäss für dokumentarische Elemente dient. Handlungsort ist ein «Lagerraum für Bahnerinnerungen», in dem verschiedene Personen auf der Suche nach der eigenen Identität aufeinandertreffen. Zwei Archivare ziehen immer neue Bilder, Dokumente und Videoaufnahmen hervor, die Geschichten und Zeugnisse rund um die Bahn festhalten. Tragische Ereignisse wie ein Unfall im Jahr 1924 kommen ebenso zur Sprache wie politische Debatten, darunter der Streik 2008. Auch menschliche und komische Episoden dürfen nicht fehlen, zum Beispiel Scherze am Arbeitsplatz und das Gemeinschaftsgefühl unter Kollegen.

Über zwei Jahre lang sammelten Stroppini und De Benedictis Material für ihr Projekt. Sie durchforsteten Haushalte sowie Archive von Gewerkschaft und Medienhäusern, sichteten Bildmaterial und drehten Interviews auf Video. Ehemalige und aktuelle BahnmitarbeiterInnen kommen zu Wort, darunter Lokführer, Kondukteurinnen, Gleisarbeiter und Techniker, aber auch Kadermitglieder der SBB, ausserdem Politiker, Gewerkschaftlerinnen und Polizisten.

Gemäss Stroppini, der selbst aus einer Eisenbahnerfamilie in Bellinzona stammt, bestätigt sich durch diese Recherchearbeit, wie eng Bahn und SBB-Werkstätten mit dem Leben in der Leventina verflochten sind: «In den vergangenen Jahrzehnten war fast jede Familie im Tal an Arbeitsplätze bei den Officine gebunden.» Vielen Befragten seien die Scharen von Bahnarbeitern, die Mitte des 20. Jahrhunderts jeden Morgen mit dem Velo nach Bellinzona pendelten, noch lebhaft in Erinnerung.

Zukunftsangst, Aufbruchstimmung

Der inzwischen verstorbene Tessiner Architekt und Politiker Tita Carloni stellte schon  im Streikjahr 2008 fest, dass die markanten  Gebäude der SBB-Industriewerke ähnlich wie die Burgen zu einem Wahrzeichen der Kantonshauptstadt geworden sind. Carloni erinnerte auch daran, dass der Arbeitskampf von Tessiner Bahnarbeitern Tradition hat: Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde mehrfach für bessere Arbeitsbedingungen gekämpft. Daran geknüpft waren immer auch Forderungen des Kantons nach mehr politischem Mitspracherecht. Geografisch war Bellinzona schon immer – auch lange vor der Fertigstellung der Gotthardbahn im Jahr 1882 – Transitregion und Pforte zum Süden beziehungsweise zum alpinen Norden.

Aktuell ist der Zugverkehr auf der Alpensüdseite vom Wandel geprägt. Neue, grosse Gleisanlagen bestimmen das Landschaftsbild rund um Bellinzona. Die Eröffnung des Gotthardbasistunnels 2016 und die kürzere Reisezeit auf der Nord-Süd-Achse werden Jobs, Reisewege und Tourismus verändern, ist Stroppini überzeugt. In den SBB-Werkstätten überlagern sich Zukunftsangst und optimistische Aufbruchstimmung. Neue unternehmerische Strukturen wie das Kompetenzzentrum für Bahntechnik wecken Erwartungen. Die Chancen und Risiken mag Stroppini nicht selber benennen – das überlässt er seinen ProtagonistInnen auf der Bühne.

«Prossima fermata Bellinzona» in: Bellinzona, Teatro Sociale, Donnerstag bis Samstag, 
15. bis 17. Januar 2015, 20.45 Uhr. Sonntag, 18. Januar 2015, 17 Uhr. www.teatrosociale.ch