Digitales Erbe: Doppelte Herausforderung, fehlende Lösungen

Nr. 4 –

Das heutige Kino ist digital. Was bedeutet das für Filme, die nur noch auf Zelluloid existieren? Und wie archiviert man digitale Filme nachhaltig? Über mangelnde Strategien und finanzielle Engpässe.

21 169 Franken. Diesen Betrag wollte der Zürcher Videoladen jüngst über die Crowdfundingplattform Wemakeit auftreiben. Damit sollte der auf Video gedrehte Film «Züri brännt», ein wichtiges Dokument der Zürcher Unruhen der achtziger Jahre, digitalisiert werden. In nur einer Woche kam das Geld zusammen – ein Glück für das Videoladenkollektiv: Nun kann der Film in digitaler Form im Jubiläumsprogramm der Solothurner Filmtage gezeigt sowie in regulären Kinos programmiert werden. Zwar gibt es noch eine 16-Millimeter-Filmrolle von «Züri brännt», doch da heute nahezu alle Kinosäle digital umgerüstet sind, ist eine digitale Kopie eines Films zwingend. Denn immer weniger Kinos verfügen überhaupt noch über Projektoren für analoge Filme.

Alle paar Jahre neu überspielen

Der Schweiz droht – wie vielen anderen Ländern auch – ein grosses kulturelles Erbe verloren zu gehen, wenn analoge Filme nicht digitalisiert werden. Dies ist allerdings nur die eine Seite des Problems. Die andere Seite ist die der Archivierung der digital hergestellten Filme. Und da heute praktisch nur noch digital produziert wird, betrifft das alle neueren Werke: Im Unterschied zum Zelluloid, das, kühl und trocken gelagert, bis zu hundert Jahren haltbar ist, ist die digitale Technologie äusserst kurzlebig. Die Abspielgeräte, die wir in zehn Jahren haben werden, dürften die Formate von heute bereits nicht mehr lesen können. So spielen viele FilmproduzentInnen alle paar Jahre die Filme auf einen neuen Träger und allenfalls auf ein neues Format um. Dies ist jedoch ziemlich aufwendig, und mit jeder Überspielung schleichen sich Fehler ein. Eine andere Archivierungsmethode ist, die digitalen Filme auf eine 35-Millimeter-Kopie zu belichten und diese längerfristig zu sichern.

Filmarchive stehen also vor einer doppelten Herausforderung: Analoge Werke müssen digitalisiert, digital gedrehte Filme in eine dauerhaft haltbare Form gebracht werden. Dabei sind verschiedene Institutionen gefordert: der Bund als Geldgeber, die Cinémathèque suisse als grösstes Schweizer Filmarchiv mit Restaurierungs- und Archivierungsauftrag, der Verein zur Erhaltung des audiovisuellen Kulturguts der Schweiz (Memoriav) sowie die SRG (Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft), die selber ein Filmarchiv besitzt und Filme restauriert und digitalisiert.

In der Kulturbotschaft 2016–2019 des Bundes wird eine «koordinierte und nachhaltige Archivierungspolitik» samt entsprechender Finanzierung ausdrücklich als kulturpolitisches Ziel genannt. Doch das ist noch Zukunftsmusik: «Es gibt in der Schweiz keine Digitalisierungsstrategie», kritisiert Barbara Flückiger, Professorin am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich. Sie beschäftigt sich schon seit Jahren mit dem digitalen Umbruch und leitet das Forschungsprojekt Diastor, an dem unter anderem das SRF und die Cinémathèque suisse beteiligt sind. «Die Digitalisierung ist seit Beginn der Nullerjahre absehbar. Seit 2008 befasse ich mich mit der Archivierung, und ich habe bereits damals die Probleme, die auf uns zukommen werden, beim Bundesamt für Kultur angemeldet. Deshalb schockiert es mich, dass dort bis heute nichts passiert ist.»

Ivo Kummer, Leiter der Sektion Film im Bundesamt für Kultur (BAK), kontert diesen Vorwurf: «Das BAK ist sehr wohl aktiv und hat Initiativen ergriffen.» Eine entsprechende Strategie werde mit der Cinémathèque suisse diskutiert und entwickelt: «Diese wird Bestandteil der neuen Leistungsvereinbarung sein, die ab 2016 zwischen dem Bund und dem Schweizerischen Filmarchiv in Lausanne abgeschlossen wird.»

Neben Strategien mangelt es in der Schweiz zurzeit auch an finanziellen Ressourcen. Das BAK gibt pro Jahr lediglich 75 000 Franken Restaurationsgelder für Filme an die Cinémathèque suisse, der vom BAK finanzierte Verein Memoriav 400 000 Franken. Auch der SRF stellt beschränkt Mittel zur Verfügung.

Vorbild Holland

Ganz anders sieht es etwa in Holland aus: Dort startete bereits im Jahr 2007 das bis heute grösste Digitalisierungsprogramm für audiovisuelles Material in Europa, an dem sechs Partner beteiligt sind und das mit 150 Millionen Franken budgetiert ist. Ein Grossteil des Projekts betrifft allerdings die Digitalisierung der Programme von über zwanzig TV-Stationen. «Wir brauchen auch ein solch koordiniertes Programm», ist Flückiger überzeugt, «und die Filmwissenschaft sollte darin eine Rolle spielen. Denn der Vorteil der wissenschaftlichen Perspektive ist, dass sie keine Eigeninteressen verfolgt.»

Das Jubiläumsprogramm der Solothurner Filmtage gab für mehrere Filmschaffende den Anstoss, ihre dort programmierten Filme zu digitalisieren. Neben «Züri brännt» existieren unter anderem nun auch Peter Luisis «Verflixt verliebt» (2004), Villi Hermanns «Matlosa» (1981) oder «Well Done» (1994) von Thomas Imbach in digitaler Form.

«Droht dem Schweizer Film die digitale Enterbung?». Podiumsgespräch mit Irène Challand (Radio Télé
vision Suisse), Barbara Flückiger (Universität Zürich), Frédéric Maire (Cinémathèque suisse), Fernand
 Melgar (Filmregisseur), Gérard Ruey (Filmproduzent),
 Christoph Stuehn (Memoriav). Moderation: Simon 
Spiegel. In: Solothurn, Uferbau, Mo, 26. Januar 2015,
 13.30–15 Uhr.