Standpunkt von Margaret Kimberley: «Je suis White People»

Nr. 4 –

Wenn das nächste Mal Millionen gegen Terror auf die Strasse gehen, schreibt die Kolumnistin Margaret Kimberley, sollten sie ihre Wut gegen die Menschen richten, die weltweit am meisten Leid verursachen: die weissen Eliten.

Tötet keine weissen Menschen! Für dieses einfache und mächtige Diktum gingen Millionen von Menschen als Reaktion auf die Anschläge vom 7. Januar 2015 in Paris auf die Strasse. Millionen von SympathisantInnen haben sich empört über den Anschlag auf eine ausserhalb Frankreichs bisher kaum bekannte «Satirezeitung» – schreibend, proklamierend, twitternd.

Die Zeitung hat den Begriff «Satire» sehr weit gefasst. Die Darstellungen der dunkelhäutigen französischen Justizministerin Christiane Taubira als Affe oder die der verschleppten nigerianischen Schulmädchen als schwangere Sozialhilfeempfängerinnen sind nicht satirisch, sondern reine Verhöhnung. Ungeachtet der vielen französischen PolitikerInnen, über die sich die Zeitung lustig macht, «Charlie Hebdo» ergeht sich auch in rassistischen Hassbekundungen. Dies haben die für Pressefreiheit Demonstrierenden ebenso schnell vergessen, wie sie sich mit den Opfern identifizierten. «Je suis Charlie» schrieben sie empört auf ihre Facebook-Profile und twitterten dies um die Welt.

Auch in den Augen der meisten Regierungen gibt es nichts Schlimmeres, als ein Dutzend Weisse zu töten. Geschickt nutzten sie die Massenmedien und reihten sich zu guter Letzt in Pose, um gegen Menschenrechtsverletzungen zu demonstrieren. Welch eine Heuchelei! Gerade diese Regimes und diese politischen FührerInnen haben die meisten Menschen auf dem Gewissen. Doch wer geht für jene Toten auf die Strasse?

Französische Amnesie

Auch US-Präsident Barack Obama nannte die Anschläge feige und sprach sich für die Pressefreiheit aus. Das sind seltsame Worte aus dem Mund eines Mannes, der sieben Mal das diskreditierende Spionagegesetz angewandt hatte, um «Whistleblower» zu verurteilen. US-AmerikanerInnen sind aber nicht die einzigen HeuchlerInnen. Die Amnesie der FranzösInnen ist ebenso erstaunlich wie ihre mangelnde Empathie Menschen gegenüber, die um einiges mehr leiden als sie.

Frankreich spielte eine wichtige Rolle im transatlantischen Sklavenhandel: 1,25 Millionen geraubte AfrikanerInnen mussten unter barbarischen Bedingungen in seinen amerikanischen Gebieten arbeiten. Nach der Aufhebung der Sklaverei hat sich die Weltsicht der EuropäerInnen indessen kaum geändert. So verlangte Paris beispielsweise von Haiti (als Gegenleistung für die Anerkennung der Unabhängigkeit 1825 und für Entschädigungen der ehemaligen sklavenhaltenden Plantagenbesitzer) eine deftige Abfindung, die das karibische Land während der nächsten Jahrzehnte zahlen musste – und die es in eine Armut drängte, aus der es sich bis heute nicht befreien konnte. Frankreich sass auch am Tisch der Berliner Konferenz 1884, an der Afrika unter den europäischen Mächten aufgeteilt wurde – eine Teilung, unter der der Kontinent bis heute leidet. Immer wieder beteiligte sich das Land an Kriegen in Amerika, Europa, Afrika, Asien und im Nahen Osten, an Massenmorden, und wollte seinen Kolonien wie Vietnam oder Algerien mit allen Mitteln die Unabhängigkeit verwehren.

Nachdem 2011 Muammar al-Gaddafi ermordet worden war, reiste der französische Präsident Nicolas Sarkozy nach Libyen, um sich persönlich das Land anzuschauen, zu dessen Zerstörung er massgeblich beigetragen hatte. Begleitet wurde er vom britischen Premierminister David Cameron, der ebenso viel Dreck am Stecken hat. Die beiden standen in der ersten Reihe des inszenierten Protests der Mächtigen gegen die Anschläge von Paris. Und die westlichen Massenmedien definieren synchron, wer in den Konflikten der Welt die wertvollen Opfer sind. Menschen mit dunkler Hautfarbe gehören selten dazu. Unter den Tausenden von PalästinenserInnen etwa, die in Gaza von Israel getötet worden sind, befinden sich auch mehrere Presseleute, siebzehn allein im Jahr 2014. Und doch marschierte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in Paris mit, als ob er unschuldig wäre am Mord an jenen JournalistInnen und an all den unschuldigen ZivilistInnen.

Auf dem Weg nach Den Haag

Es gibt viel Grausames in der Welt, über das sich die Menschen empören. Aber das Mass der Empörung hängt davon ab, wer hinter den Gräueltaten steht. Morde sind immer falsch. Es ist nicht gerade ein Zeichen menschlichen Fortschritts, dass Morde, die von Individuen begangen werden, so viel mehr beunruhigen als die, die von militärischen Drohnen ausgeführt werden. Die schlimmsten Terrorakte werden von Staaten begangen, die nicht siebzehn, sondern Tausende von Menschen getötet haben – und immer noch mit Respekt behandelt werden.

Die Gruppe der blutrünstigen Weltelite hätte fotografiert werden sollen, wenn sie auf dem Weg nach Den Haag gewesen wäre – nicht an dieser inszenierten, scheinheiligen Solidaritätsbekundung in Paris.

Aus dem Englischen von Corina Fistarol.